Im Club der toten Dichter

Frank Steinwachs

Lesen im Unterricht bedeutet im schlimmsten Fall, dass 25 Schüler vor Büchern oder Kopien sitzen, kursorisch vorgelesen wird, die Inhalte im Gespräch oder in Arbeitsgruppen analysiert und die Ergebnisse gesichert werden. Dass dieser Weg zunehmend von Arbeitsblättern geprägt ist, die ein Denk-, Analyse- und Ausfüllschema vorgeben, das durch die Verinnerlichung der vorgegebenen Arbeitsabläufe ein systematisches Textverständnis fördern soll, mag berechtigt erscheinen. Diese Form der Arbeit fördert jedoch ein stereotypes Denken und vernachlässigt die kreative Denkfähigkeit ebenso wie das innere Erleben. Dieser Prozess hält auch nach dreizehn Jahren Pisa-Aktionismus an. Wollte man dieser Entwicklung etwas entgegenstellen, muss die erste Frage lauten: Welchen Bedürfnissen muss Literaturunterricht heute begegnen?

Lesen ist eine individuelle Angelegenheit

Man braucht nur einem Menschen beim Lesen zusehen. Die Augen ruhen auf dem Papier mit Buchstaben und das Bewusstsein ist in einer Welt, die man kaum erahnen kann. Wenn Kinder unter der Decke mit Taschenlampe und Buch die Bettzeiten heimlich ausdehnen, im Winter, eingekuschelt in eine Decke, auf dem Sofa gelesen wird oder auf eine Frage nur unverständliches Gebrummel kommt, wird klar: Da liest jemand und ist in einer anderen Welt, die meist sehr authentisch er- und durchlebt wird.

Lesen ist eine öffentliche Angelegenheit

Lesen ist auch ein kultureller, sozialer und gesellschaftlicher Akt. Es ist ein Weg, sich selbst, dem Anderen und der Gesellschaft über ein künstlerisches Medium und dessen Sprache zu begegnen. Lesen ist Sprechen über Lektüre und im besten Fall auch die Veränderung der eigenen Weltsicht, des eigenen Handelns. Nach der Lektüre von Hermann Hesses »Unterm Rad« in einer 11. Klasse beispielsweise und einer ergänzenden Behandlung der Thesen des Theologen und Erziehungswissenschaftlers Ivan Illich, der die Schule als Herrschaftsmittel betrachtete, sie in den 1970er Jahren abschaffen wollte und die No-Schools-Bewegung mit initiierte, kam es zu Diskussionen im Schülerrat. Eine Schülerin trieb das Thema derart um, dass sie sich in ihrer Jahresarbeit intensiv damit beschäftigte, was eine freiheitliche Pädagogik sein kann. Sie hospitierte in Schulprojekten, recherchierte und führte Gespräche mit Kollegen und Schülern. Abschließend stellte sie Thesen auf, die auch nach der Präsentation der Jahresarbeiten zu angeregten und kontroversen Gesprächen in Kollegium und Elternschaft führten.

Lesen kann erfahren und gelernt werden

Literatur wird oft als eine fremde Sprache erlebt, die sich in ihrem künstlerischen Charakter nicht immer von selbst erschließt und sich daher als Unterrichtsgegenstand anbietet. Je mehr reflektierte literarische Erfahrung anwächst, desto mehr Türen öffnen sich dem Leser, das Erleben und der geistige Raum vergrößern sich, zum Teil enorm.

Die Frage für den Deutschlehrer kann also lauten: Wie ist es möglich, das Lesen in seinem natürlichen Prozess erlebbar zu fördern? Wie kann die individuelle, kulturelle und soziale Erfahrung unterstützt und verstärkt werden? Und zur Verantwortung des Lehrers: Wie kann ich verhindern, dass ein schematisiertes Denken die Folge meines Unterrichtes ist?

Eine Idee: »Ich lese mein Buch selbst«

In der 9. Klasse wurden die Erzählungen von Jakob Wassermann »Das Gold von Caxamalca« und Friedrich Schiller »Der Verbrecher aus verlorener Ehre« gelesen und erarbeitet – zum Teil eng an den Vorgaben des Lehrers, zum Teil freilassend. Mit dieser Voraussetzung – so die Idee – sollte das von den Schülern Erlernte für einen weiteren Roman zugrunde gelegt werden, um sich dann weiter mit diesem auseinanderzusetzen. Das Gleiche sollte die 11. Klasse tun. Auch wenn die 11. Klasse deutlich mehr Methoden- und Lektüreerfahrung hatte, lag das Ziel für beide Klassen nicht darin, die fachmethodischen Verfahren eigenständig und schematisch wie eh und je anzuwenden, sondern von den eigenen Interessen am Thema auszugehen und zu einer Auseinandersetzung zu kommen.

Die Schüler der 9. Klasse wählten sich aus einem Pool Annette von Droste-Hülshoff, »Die Judenbuche«, und die 11. Klasse »Jugend ohne Gott« von Ödön von Horvath. Die erste Woche sollte genutzt werden, um die Lektüre inhaltlich angemessen zu erfassen, um eine Basis für Weiteres zu schaffen: Hierfür wurde das Buch gelesen, eine Inhaltsangabe verfasst, der Erzählaufbau schematisch dargestellt und drei Figuren wurden charakterisiert, die nach eigenen Kriterien ausgewählt werden konnten. Die zweite Aufgabe bestand darin, sich hernach eigene Themen oder Projekte zu suchen, die direkt oder indirekt mit dem Buch zusammenhängen, und diese zu erarbeiten oder umzusetzen – mehr Einschränkungen gab es nicht. Alle durften dort lesen und arbeiten, wo sie wollten. Da der Sommer sich ankündigte, waren die meisten auch auf dem Schulgelände verteilt und saßen dort allein oder in kleinen Grüppchen mit ihren Büchern und Blöcken auf dem Rasen, den Baumstämmen, den Bänken – jeder fand seinen Lese-Ort. Einige Schülerinnen und Schüler, denen der Zugang und die eigenverantwortliche Arbeit etwas schwer fiel, die »keine Lust auf Projekt« hatten, konnte ich individuell unterstützen. Einige haben sich

von leistungsstärkeren oder schnelleren Mitschülern die Inhaltsangaben oder Charakterisierungen korrigieren lassen, einige fragten auch mich. Sowohl in der 9. wie auch in der 11. Klasse haben sich die Schüler erstaunlich schnell durch die Basisaufgaben gearbeitet, um dann zu eigenen Ideen zu kommen. Da einige, vor allem in Klasse 9, keine eigenen Ideen zu dieser Erzählung hatten, wurde im Klassenraum eine Liste mit Themen geführt, auf der Ideen gesammelt wurden, die vielleicht auch andere Mitschüler inspirieren könnten. So kam es an der einen oder anderen Stelle zum hilfreichen Austausch – denn von einer 9. Klasse konnte nicht erwartet werden, dass bei der »Judenbuche« alle eine zündende Idee entwickeln.

Die Aufgaben waren vielfältig. In Klasse 9 wurden oft die historischen Hintergründe und der Antisemitismus bearbeitet, das Problem der Unehrlichkeit und Bigotterie in der Gesellschaft oder die Biographie der Autorin. Eine Schülerin begann sich intensiv mit der Lyrik von Annette von Droste-Hülshoff zu beschäftigen. Zwei Schüler erarbeiteten sich das Thema in Form einer Graphic Novel (Comicroman), andere ließen sich künstlerisch inspirieren und gaben eine Reihe von Graphiken ab. Fünf Schüler lasen, verglichen und kommentierten Romane, von denen sie meinten, dass sie ähnliche Themen behandelten.

Der Unterschied zur 11. Klasse, die das Projekt am Anfang des Schuljahres über mehrere Wochen im Fachunterricht durchlief (insgesamt vier Fachstunden pro Woche) bestand vor allem im inhaltlichen und analytischen Niveau und einem Horizont, der auf eine andere Lebenserfahrung zurückgreifen konnte. So haben zwei Schüler das Theaterstück »Der Kick« und die rechtsradikale Szene zu ihrem Thema gemacht. Eine Schülerin hat sich mit der Seelenlehre des Aristoteles beschäftigt und ihre Gedanken essayistisch auf das behandelte Buch bezogen. Wieder andere haben sich mit den historischen Sachtexten und dem Vergleich zwischen Roman und Wirklichkeit befasst. Die Themen waren Widerstand, Alltag, Schule und Jugend und Kurzbiographien. Auch künstlerische Arbeiten entstanden: Ein Schüler entwarf einen Bilderzyklus als Buch-Illustration und hat seine Graphiken sowie die darin liegende Umsetzung des Textes schriftlich erläutert.

Natürlich waren einzelne Schüler schwer zu motivieren, doch ging dies bei einem solchen Projekt deutlich leichter als in einem Unterricht, in dem 25 Schüler vor Kopien oder Büchern sitzen und mehr oder weniger interessiert ihren College-Block malträtieren oder im Epochenheft »bunteln«.

Was bleibt?

Die Hefter wurden in der letzten Doppelstunde ausgelegt und – soweit es die Zeit zuließ – von der Klasse gelesen. In einem Kommentarbogen gab es dann ein individuelles Feedback durch eine angemessen formulierte Meinung, kurze Gedanken oder Tipps für eine Überarbeitung – oder einfach nur Lob. Auffällig war, dass sich in Klasse 11 sogar Bestsellerhefter herauskristallisiert haben, die von sehr vielen gelesen wurden. Unabhängig davon, dass in der 11. Klasse einige Arbeiten noch Wochen später ausgetauscht wurden, hat sich eine Grundregel des Unterrichtens erneut bestätigt: »Vertraue den Schülern, denn sie wollen etwas erleben, erfahren und dadurch lernen.«

Zum Autor: Frank Steinwachs ist Lehrer für die Fächer Deutsch und Geschichte an der Freien Schule Hitzacker sowie Dozent für Geschichtsdidaktik am Seminar für Waldorfpädagogik in Berlin.