»In dem Moment zählt nur man selbst«. Mantra-Singen mit Fünftklässlern

Florian Heinzmann

So eine Stille gibt es in meinem Unterricht selten. Vor mir 38 Fünftklässler im Schneidersitz. Indienepoche. Ich erkläre das Prinzip des Mantrasingens: Vorgesang und Nachgesang immer im Wechsel, dann gemeinsam. Ich spiele leise Gitarrenklänge dazu. Dass es zurzeit um Indien geht, zeigt ein Blick auf die Tafel. Die Klassenlehrerin Anke Maus hat eine wunderbare Landkarte gezeichnet. Außereuropäische Kulturen gehören an Waldorfschulen zum Lehrplan in der fünften Klasse. Bereits zum vierten Mal übernehme ich einen Teil des Hauptunterrichtes in dieser Epoche, um von meinen Erlebnissen in Indien zu berichten und den Kindern einen möglichst lebendigen Endruck davon zu vermitteln. Diese Kultur hat uns viel zu sagen. Sie ist keineswegs verstaubte Vergangenheit. Ihre Botschaft ist hochaktuell, vielleicht aktueller und bedeutsamer denn je. Diese Kultur hat das Potenzial, die verdeckte Seite des Menschen zu berühren und aufzudecken. Gelingt es mir, den Fünftklässlern einen Geschmack davon zu vermitteln?

Die innere Sonne

Zu Beginn der Stunde habe ich den Schülern zur Einstimmung ein Bild beschrieben: Die alten Geschichten aus Indien erklären, dass der Mensch etwas in sich trägt, das so ähnlich ist, wie die Sonne am Himmel. Obwohl man dort meistens nur Wolken sieht, ist dahinter doch die Sonne verborgen. Die Wolken sind unsere Gedanken, Sorgen und Ängste. Wenn diese sich auflösen, zeigt sich die innere Sonne. Wie schafft man es, dass sich die Gedanken und Sorgen auflösen? Dadurch, dass man die Augen schließt, den Blick nach innen richtet, sich dort eine Sonne vorstellt und sich darauf konzentriert. Zur Hilfe kann man dazu ein Mantra singen, einen Versspruch, der sich immer wiederholt. Wollen wir das mal versuchen? »Jaaaaa!« Und schon geht’s los. Mit den Schülern singe ich das Gayatri-Mantra, ein Gebet an die Sonne:

Om bhur bhuvar swaha
Tat savitur varenyam
Bhargo devasya dhimahi
Dhiyo yo nah prachodayat

Zu Deutsch: »Lass uns meditieren über die unendliche Sonne, die in allen drei Welten leuchtet. Möge sie unseren Geist erwecken.«

Das Experiment gelingt. Es ist bisher jedes Mal gelungen. Die Schüler scheinen zu verstehen, dass sie selbst einen Schatz im Innern tragen, den sie manchmal auch fühlen. Sie scheinen instinktiv zu spüren, dass es sich lohnt, hier auf die Suche zu gehen. Viele schließen unaufgefordert die Augen und nehmen ein innerliches Bad im Klang des Gesangs und der Gitarre. Auf die Frage, wo denn im Körper diese innere Sonne aufgehen könnte, zeigt die Hälfte der Schüler spontan auf die Mitte der Brust. Hier befindet sich den Yogalehren zufolge das so genannte Anahata-Chakra, das Energiezentrum des Herzens, von dem auch Rudolf Steiner in seinen Grundwerken spricht. Laut Steiner ist es dem Menschen möglich, durch Meditation diese Energiezentren fühlbar und erlebbar zu machen.

Mantra-Singen heißt, sich mit der Welt verbinden

Das gemeinsame Singen von Mantren wird in Indien Kirtan (Preisung) genannt. Es ist möglicherweise keine ursprüngliche Praxis des indischen Altertums, denn in der alten vedischen Tradition der Brahmanen wurden Mantren wahrscheinlich lediglich rezitiert. Allerdings ist bereits in der mindestens 2000 Jahr alten Bhagavad-Gita vom »Kirtan« als Methode für den »Bhakti-Yoga« – den Yoga der Hingabe – die Rede. Im Laufe des indischen Mittelalters wurde die Praxis des Bhakti-Yoga zu einer regelrechten Massenbewegung. Aus alten Mantren entstanden Tausende von Gesängen, die nicht nur von den Brahmanen rezitiert, sondern auch vom Volk gesungen werden durften. Sie boten dem Volk eine Möglichkeit, das Brahman (den Weltgeist) zu erkennen, obwohl es keine Initiation in die vedischen Hymnen erhalten hatte. Das Gayatri-Mantra wurde über viele Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende, nur im Geheimen von Lehrer zu Schüler weitergegeben.

Das Mantrasingen wird in der Yogaphilosophie – etwa in der Bhagavad-Gita – als leicht zu praktizierende und sehr wirksame Form der Meditation beschrieben. Es geht hier, wie immer wieder betont werden muss, nicht um Weltflucht, sondern um Verbindung mit der Welt – durch innere Vorbereitung. Es geht auch nicht um ein Einschläfern des Denkens, sondern um Wachheit und innere Präsenz, um Konzentration und innere Sammlung. Das will natürlich geübt sein. Dass jedenfalls Meditation im Allgemeinen dem Menschen in vielerlei Hinsicht nützt, etwa die Gehirnstruktur erweitert, Schmerzen lindert und die Denkkapazität verbessert, hat die neurologische und psychologische Forschung, die das Thema seit Jahren mit stetig steigendem Interesse untersucht, in Hunderten von Studien beschrieben. Auch wird die Methode des Mantrasingens bereits von Therapeuten in der Musiktherapie erfolgreich angewandt.

Ein Weg zum Frieden

Und so frage ich auch die Schüler nach der Gesangserfahrung, wofür es ihrer Ansicht nach nützlich sei, die innere Sonne zu entdecken. Die Antworten setzen mich in großes Erstaunen und zugleich in Begeisterung: »Man wird

ruhiger«, »Man fühlt sich irgendwie stärker«, »Man kann anderen Menschen besser helfen«, »Man spürt ein Glücksgefühl und wird insgesamt glücklicher«, »Man kann besser denken«, »Man hat eine bessere Beziehung zur Natur, zu den Tieren und den Pflanzen«, »Man fühlt sich einfach wohl«, »Beim Meditieren ist plötzlich alles um einen herum unwichtig und in dem Moment zählt nur man selbst.« Zufrieden verlasse ich das Klassenzimmer.

Frau Maus erzählt mir einige Tage später, dass sie das Mantra mit den Schülern nun jeden Tag singt und die Schüler es bereits am nächsten Tag auswendig konnten. Auch als ich einige Wochen später das Klassenzimmer betrete, um das Mantra mit der Klasse noch einmal zu singen, während Frau Maus einige Fotos für diesen Artikel macht, singen die Schüler mit großer Begeisterung mit. Vielleicht ist ihre innere Sonne ein klein wenig heller geworden. Ich jedenfalls fühle mich – wie nach jedem Mantrasingen – wunderbar leicht, erfüllt und beglückt. Gleich am nächsten Tag begegnet mir zufällig ein Zitat des Dalai Lama, das mich ermutigt, auch in Zukunft weiterhin so mit Kindern zu arbeiten: »Wenn jedem Achtjährigen in der Welt die Meditation gelehrt wird, werden wir innerhalb einer Generation jegliche Gewalt auf der Erde eliminiert haben.«

Zum Autor: Florian Heinzmann lebt in Köln und arbeitet neben seiner Lehrertätigkeit in der Oberstufe der Michael-Bauer-Schule Stuttgart als Meditationslehrer sowie als Stressmanagement-Berater für Einzelpersonen und Unternehmen. (www.unity-training.de)