Klassisch in der 5. Klasse

Bero von Schilling

Wenn Fünftklässler von dem einäugigen Kyklopen Polyphemos hören, staunen sie über diesen urweltlichen Riesen. Wenig später bangen sie um den vielduldenden Odysseus, wenn er in dessen Höhle gefangen ist. Sie bewundern seine Geistesgegenwart und freuen sich mit ihm darüber, wie schlau er sich am Ende aus der Not befreit. Dieselben Kinder haben sich kurz zuvor in der Pause noch über die neuesten Smartphones ausgetauscht. Und wenn sie am gleichen Tag hören, dass »BIOS« »Leben« heißt und »GRAPHO« »ich schreibe«, empfinden sie mit Genugtuung, dass sie plötzlich verstehen, was »Biographie« heißt.

Die Fünftklässler sind im gleichen Zeitraum zu so verschiedenen Stimmungen fähig, weil sie gerade im Übergang leben von einem mehr mythisch-bildhaften Empfinden und Denken zu einem bewussteren und rational reflektierenden Betrachten der Welt und des Menschen. So können sie Elemente aus der Zeit der frühen und klassischen Griechen, die sich als ganzes Volk in einer entsprechenden Weise entwickeln, nicht nur nachvollziehen, sondern ihnen innerlich zustimmen, weil sie sich von ihnen gleichsam bestätigt fühlen.

Mit großer Anteilnahme hören sie ebenso die alten Mythen wie den Bericht darüber, warum Sokrates sich in seinem Wirken unter den Athenern mit einer Stechfliege vergleicht. Sie wetteifern – zum Beispiel mit einer Nachbarklasse oder Kindern einer befreundeten Schule – in einem griechischen Fünfkampf um den Olivenzweig für den Sieger und gestalten ganz zum Griechischen passende, anspruchsvolle Hefte.

Die »Griechen« machen den Fünftklässlern erkennbar Freude. Wie diese Freude sie nachhaltig begleiten kann, wird das Erstaunen über manche Mythen in ihnen das Gefühl wach halten, dass die Welt Geheimnisse birgt.

Von Mäander und Labyrinth

Was geschieht dafür im Unterricht? Eine vor- und nachbereitende Wahrnehmung griechischen Empfindens haben die Fünftklässler dadurch, dass sie die meiste Zeit des fünften Schuljahres hindurch im »Erzählteil« griechische Mythen hören. An jedem Morgen der eigentlichen Griechisch-Epoche sprechen, singen und/oder tanzen wir mit den Kindern griechische Texte. Dabei erweitern die fremden, schönen Klänge und die hohe sprachliche Qualität der griechischen Wortlaute ihr Erlebnisfeld für Sprache.

An Beispielen griechischer Wörter erfahren die Kinder, wie viele grundlegende Betrachtungsweisen unserer Welt, die sie aus Fremdwörtern kennen, die Griechen entwickelt haben; dabei spüren sie sowohl etwas von der geistigen Kontinuität als auch vom Wandel unseres Bewusstseins im Verhältnis zu demjenigen der alten Griechen. So gibt es, wie Wilhelm Grimm beobachtet hat, kein deutsches Wort für »Idee«. An Begriffen wie »Politik«, »Mathematik« oder »Ethik« üben wir bis heute den griechischen »prinzipiellen Blick« auf die Welt. »SKHOLÄ« ist die von Erwerbstätigkeit freie Zeit, die uns erlaubt, das zu tun, was uns wichtig ist. »Schule« will das Gleiche; in Wörtern wie »verschulen« wird der Begriff verfälscht. »TEKHNÄ« ist die Fähigkeit zur sachgerechten Handhabung. »Technik« macht aber manchmal die Natur zum bloßen Objekt. Das wäre Griechen nie eingefallen. »KOSMOS« ist »Ordnung, das schön geordnete Weltall, Schmuck«. Heutzutage kann das noch mitklingen, oft steht das Wort aber auch für »leerer Weltraum«. »THEORIA« ist: »Anschauen«. »Theorie« gilt heute aber oft als »abstrakte Fiktion«. Im großen mittleren Teil der täglichen Epochen-Zeit vollziehen wir mit den Kindern beispielhafte Elemente der griechischen Kultur unmittelbar nach. Wir berichten ihnen davon, wie die Griechen übers Meer fahren, um neue Länder und Menschen kennenzulernen und mit diesen Handel zu treiben. Der vielfach geschwungene Flusslauf des Maiandros, den sie dabei sehen, lässt die Griechen staunen und regt ihre Phantasie an. In vielfach variierten Mustern schaffen sie zu ihm auf Vasen oder auf kostbar geschmückten Kleidern immer neue Ausgestaltungen.

Wenn die Fünftklässler an der Tafel an mehreren Tagen hintereinander die verschiedenen Mäander sehen, spüren wir den sich wandelnden Empfindungen nach, die diese widerspiegeln: Was anfangs träumend fließt, wird plötzlich bewusst. Mal geht der Blick wieder zurück, ein andermal immer mehr nach innen. Wir ergründen die zahlenmäßigen Verhältnisse der Längen ihrer Seiten; wenn sie diese klar durchschauen, macht es den Fünftklässlern Freude, auch die immer komplizierter gebauten Formen mit großer Sorgfalt nachzubilden. Eine weitere Dimension des Verständnisses erschließt sich ihnen, wenn sie nach der Erzählung von Theseus und Ariadne das geheimnisvolle Labyrinth in ihren Heften ausformen.

An je 24 griechischen Einzelwörtern, die sie vorher gesprochen haben, erüben die Kinder die schönen Formen der großen und der kursiven kleinen Buchstaben des griechischen Alphabets oder malen nach der Geschichte von der Geburt und den ersten Taten des Gottes Apollon einen klar geformten griechischen Tempel. Soweit wir im Unterricht geschichtliche Inhalte berühren, geht es uns um Menschen, ihre Ziele, ihre Fähigkeiten und Empfindungen. Demokratie zum Beispiel erleben Fünftklässler selbst, wenn sie sich in kleinen Reden aneinander messen, die sie zu grundsätzlichen Fragen, auch zu solchen unserer Gegenwart, halten.

Das ganze 5. Schuljahr ist griechisch gestimmt

Mindestens so wirksam wie griechische Inhalte sind charakteristisch griechische Stimmungen, etwa die Freude am Licht der Sonne und am eigenen Vermögen, sowohl zu sehen als auch kunstfertig zu gestalten. Das griechische Empfinden, dass die Welt überall zugleich die Welt größerer oder kleinerer göttlicher Wesen ist und von diesen als ganze schön geordnet und bis ins Kleinste belebt ist, wird in den Geschichten anklingen und in den Kindern vielleicht einmal im Anblick einer Quelle oder eines besonderen Baums eine Stimmung fragender Aufmerksamkeit wachrufen. Ebenso gehören hierher die Fähigkeit der Griechen, zu staunen und der Wunsch, alles Erstaunliche zu erforschen. Es drängt sie, Rätsel, zum Beispiel die eines Orakelspruchs, zu lösen. In ihnen lebt ein starkes Bedürfnis nach innerer und äußerer Freiheit. Neben der geistigen Beweglichkeit üben sie diejenige des Körpers. Ganz griechisch ist auch das Streben danach, das Beste aus sich zu machen. Die Griechen empfinden starke Gefühle und zugleich den Wunsch, diese zügeln zu können, denn nur das schöne Maß in allem führt zu der Wohlausgewogenheit, die sie überall anstreben. Solche griechischen Empfindungen oder ihre Abwandlungen werden auch in anderen Unterrichten der »griechischen« 5. Klassenstufe gepflegt. Freude an anspruchsvoller Schönheit kann den Kindern jetzt neue gestalterische Fähigkeiten erschließen. Innerlich frei versuchen wir, uns mit ihnen bewusst der Welt zuzuwenden. In der Stimmung der Neugier können wir jetzt auf alle Möglichkeiten des Menschen schauen. Welche Gesetze entdecken wir in der Geometrie, welche Ordnungen im Bau der Sprache oder in dem der Pflanzen? Was ist typisch an einzelnen Tieren?

Am Ende des Hauptunterrichts erzählen wir den Fünftklässlern altgriechische Mythen. Da wechseln die eben noch hellwach-munteren Kinder mit Leichtigkeit in ein ruhig- oder bewegt-betrachtendes Element. Durch die bildhaften »Angebote« der Mythen weitet sich ihr geistiger Horizont. Gern hören sie von den menschengestaltigen griechischen Göttern, den Halbgöttern oder Heroen und schließlich von ganz menschlichen Helden. Vom Ganzen der Welt führt unser Weg zu den einzelnen Menschen. Auch in der Abfolge verschiedener Geschichten, die wir den Fünftklässlern von den großen Heroen und Helden erzählen, kommen diese nach und nach immer mehr »auf die Erde« und werden immer selbstständiger.

Und wenn dann nach den abenteuerlichen Taten und gefahrvollen Prüfungen des Perseus, des Herakles und des Odysseus davon erzählt worden ist, dass dieser von den geheimnisvollen Phaiaken am Ende seiner langen Irrfahrten schlafend in seine Heimat geleitet worden ist, hören die Kinder von einem einschneidenden Ereignis: Das vorher gedankenschnelle Schiff der Phaiaken wird bei seiner Rückkehr von Poseidon in eine steinerne Mauer vor ihrer Stadt verwandelt; nie wieder wird ein Mensch ihre Hilfe erlangen. An solchen Elementen der griechischen Mythen spüren die Fünftklässler, dass eine alte, von der Mitwirkung göttlicher Wesen wundersam geprägte Zeit sich allmählich in eine solche der Eigenverantwortung der Menschen wandelt. Das passt zu ihrem eigenen, sich allmählich in ähnlicher Weise verändernden Verhältnis zur Welt und zu sich selbst. Bei dieser Entwicklung werden sie dann als Sechstklässler durch die Berührung mit der römischen Epoche, die von irdisch-sozialen Aufgaben des Menschen geprägt ist, innerlich begleitet werden.

Zum Autor: Bero von Schilling war Fachlehrer für Griechisch und Latein an der Rudolf Steiner Schule Bochum.

Literatur: Bero von Schilling: »Helleniká«, Kassel 2012, bisher: Teile I. und II. (bei der Pädagogischen Forschungsstelle Kassel); geplant ist Teil III. zum Erzählen griechischer Mythen.