Lebendige Begriffe statt Definitionen – Zur Pflanzenkunde an der Waldorfschule

Nico Schapitz

Das bedeutet: intensive Textarbeit und einen forschenden Blick in die uns umgebende Natur. Erfahrungsgemäß ist das im Alltag der Waldorflehrer nicht leicht zu meistern. Mit dem Anspruch, den der Lehrerberuf mit sich bringt, entsteht in uns allzu leicht ein Bedürfnis nach konkretem Unterrichtsinhalt und kompakten Formen, in denen sich dieser darstellen lässt. Leicht kann es passieren, dass man dann zu einer Methodik der Definitionen und starren Begriffe kommt.

Die Welt in Kästchen

Wie sieht eine konventionelle Herangehensweise aus? Die Schüler lernen die Pflanzenarten zu unterscheiden, Pflanzenfamilien zu definieren und einzelne Pflanzen exakt zu benennen. Lehrer könnten sich dafür gut mit einem einfachen Bestimmungsbuch vorbereiten. Was aber bedeutet ein solcher Unterricht für die Schüler? Die Kinder hätten die Aufgabe, sich die Pflanzen anzusehen. Sie müssten spezielle Merkmale an einem Exemplar untersuchen, die eindeutig belegen, dass es diese Pflanze mit diesem einen Namen ist. Das heißt, die Kinder isolieren die Pflanze von ihrer Umgebung. Alles entfällt, was nicht in das Spektrum des Gesuchten passt. Der Blick verschließt sich vor jeder anderen Beobachtung. Ist ein bestimmtes Merkmal gefunden, packt der Verstand zu und urteilt: Die Pflanze hat diesen Namen und gehört zu jener Familie. – Abgehakt.

Steiner beschreibt die Wirkung dieser üblichen Vorgehensweise eindrücklich: »Wenn man noch ein ganz kleines Kind ist, dann muss ein menschliches Glied wachsen. Wir dürfen die Hand nicht in einen eisernen Handschuh einspannen, sie würde nicht wachsen können. Aber die Begriffe, die wir den Kindern beibringen, die sollen möglichst scharfe Konturen haben, sollen Definitionen sein, und das Kind soll immer definieren. Das Schlimmste, was wir dem Kinde beibringen können, sind Definitionen, sind scharf konturierte Begriffe, denn die wachsen nicht […]«.

Keine Pflanze ist eine Insel

Was also dann? Steiner fordert, dass das Kind sich »mit seinem ganzen Seelen-, Körper- und Geistesleben« in die Welt hineinstellen sollte. Was heißt das in Bezug auf die Entwicklung der Kinder? Die Kinder der fünften Klasse haben den Rubikon hinter sich gelassen. Ihr Verhältnis zur Welt hat sich tiefgreifend geändert: Sie erleben ihr eigenes Ich und die Welt getrennt. Sie haben sich von ihrer Umgebung distanziert und können nun mit Abstand auf die Erscheinungen blicken. Ein Resultat ist der ausgesprochen starke Forschergeist vieler zehn- oder elfjähriger Kinder. 

Steiner formulierte das Ziel, dass sich an einer lebendigen Pflanzenkunde der Intellekt des Kindes entwickeln soll. Durch lebendige Begriffe im Bereich des Lebendigen bilde sich auf natürliche Art und Weise Klugheit im Denken des Kindes. Das könne dadurch geschehen, den Kindern die Glieder der Pflanze (Wurzel, Stängel, Blatt, Blüte) in Beziehung zu den Elementen Wasser, Licht, Luft, Wärme, Erde und ihren Wirkungen zu zeigen. Die Pflanze solle immer in Beziehung zur Umgebung betrachtet werden. Das heißt: kein Anschauungsunterricht, kein Herbarium, keine abgerissenen Pflanzen! Die Kinder müssen raus in die Natur, um die Pflanzen kennenzulernen.

Wenn die Schüler zum ersten Mal eine Pflanze als Gegenstand des Unterrichts vor sich haben, ist es entscheidend, dass sie ein starkes, innerliches Bild von dieser Pflanze bekommen. Daran können sich im Lauf des Unterrichts Begriffe bilden. Diese erste Pflanze kann exemplarisch für den Blick auf andere Pflanzen sein. Deshalb ergibt es Sinn, sich für die erste Pflanze viel Zeit zu nehmen. Es bietet sich an, zunächst bildhaft von der Pflanze zu erzählen und ihr Wachstum zu beschreiben. Dabei hat der Lehrer die Möglichkeit, die Kinder innerlich durch eine Beobachtung zu führen. Solange in der Beschreibung der Pflanze ausschließlich die Phänomene, also das konkret Erfahrbare an der Pflanze und ihrer Umgebung geschildert wird, wird kein Urteil, keine Erkenntnis vorweggenommen. Wie ist die Gestalt der Pflanze? Was fällt besonders auf? Zu welcher Zeit im Jahr wächst die Pflanze auf welche Weise? Ist sie dem Licht und dem Wind ausgesetzt? Wie sind die Wärmeverhältnisse? Wie sieht die Erde aus? Wie riecht sie? Wie fühlt sich die Pflanze an? Haben die Kinder eine solche Beschreibung gehört und ein inneres Bild entwickelt, können sie die Pflanze draußen selbst betrachten und eigene Beobachtungen hinzufügen. Vermeintliche Widersprüche ergänzen das Bild, das Bild wird reicher. Die Beobachtungsgabe der Kinder steigert sich mit fortschreitender Übung. Dadurch fallen Einzelheiten stärker auf.

Das Kind schafft selbst den Begriff

Wie aber kommen die Kinder nun zu der Erkenntnis, wie die einzelnen Glieder der Pflanze mit den Elementen zusammenhängen?

Es kann nun verglichen werden: Wie zeigt sich Wasser in der Natur? Welche Formen bildet es? Welche Beobachtungen an der Pflanze passen dazu? Wie sieht sie in einer wässrigen Umgebung aus, wie in einer trockenen? Welches Glied der Pflanze verändert sich dadurch besonders? Je mehr Phänomene nebeneinandergestellt werden, desto deutlicher bildet sich wie von selbst ein Begriff des Pflanzenteils. 

Der Begriff umfasst dessen Gestalt und Beschaffenheit, aber auch seinen Zusammenhang mit einem Element und den umgebenden Bedingungen. So erschließen sich die Kinder Begriffsgebilde um die Pflanze herum. Nun können sie in die Vielfalt gehen und sich »eigenen« Pflanzen zuwenden. Sie können selbst forschen, zeichnen, beobachten. Dabei ist es sehr hilfreich, wenn Pflanzen gewählt werden, die eine sehr deutliche Beziehung zu einem Element haben. Die Pflanze sollte eines ihrer Glieder besonders ausgeprägt haben, wie zum Beispiel bei den Gräsern der Stängel, bei den Nutzpflanzen die Frucht, bei den Blumen die Blüte. Wir fragen: Welche Formen bildet die Pflanze? Welche Glieder sind besonders ausgeprägt? Wie sind die Standortverhältnisse?

Wenn die Kinder nun auf eine Pflanze zugehen, ist ihre Anschauungsart ganz anders als die definierende. Sie werden die Pflanze ebenso genau betrachten. Sie werden aber nicht alle »unnützen« Informationen herausfiltern und ausschließlich auf definierende Merkmale schauen, sondern versuchen, alle Beobachtungen zusammenzuführen. Es ist ein fragender Blick auf die Pflanze: Was zeigt sich durch ihre Gestalt? Welches Element spricht sich durch sie aus? Natürlich formulieren die Kinder diese Fragen nicht, aber doch sind es die Fragen, die hinter dieser Betrachtungsweise stehen. Im Zentrum steht nun zweierlei: die Wesenhaftigkeit der Pflanze und die innere Aktivität des Beobachters. Die Begriffe, die die Schüler von der Pflanze und ihren Teilen gebildet haben, wachsen mit jedem neu beobachteten Phänomen, mit jeder neuen Erfahrung.

Auf dieser Grundlage lässt sich das Denken beweglich halten, ein Denken, das nie abstrakt wird, sondern sich an der konkreten Wirklichkeit immer wieder prüft – eine Fähigkeit, die in vielen weiteren Themen- und Fachgebieten zum Tragen kommen kann.

Zum Autor: Nico Schapitz ist Klassen- und Gartenbaulehrer an der Freien Waldorfschule Eisenach.

Literatur: R. Steiner: Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge. GA 295, Dornach 1969 | R. Steiner: Die gesunde Entwicklung des Menschenwesens. Eine Einführung in die anthroposophische Pädagogik und Didaktik. GA 303, Dornach 1978 | R. Steiner: Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung. GA 307, Dornach 1973 | R. Steiner: Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit. GA 311, Dornach 1963 | H.-Chr. Vahle: Die Pflanzendecke unserer Landschaft. Eine Vegetationskunde, Stuttgart 2007