Lebenslernen in der Natur. Eine Hilfe zur Selbstfindung

Christoph Leuthold

Um das Eigene zu finden, müssen sich die Jugendlichen von den Werten und Urteilen ihres bisherigen Umfeldes lösen, von welchen sie als Kinder getragen wurden. Zugleich realisieren sie aber auch, dass sie ihre Identität nicht allein durch direkte Selbstwahrnehmung finden können. Beides verunsichert sie und führt oft zu seelischen Krisen.

Rudolf Steiner hat darauf hingewiesen, dass psychologisches Grübeln in der eigenen Seele nicht weiterhilft, sondern dass der Weg zur Sinn- und Ichfindung genau in die Gegenrichtung weist, nämlich hinaus in die Welt, für die es lebendiges Interesse zu wecken gilt:

Suche im Umkreis der Welt:
Und du findest dich als Mensch;
Suche im eigenen menschlichen Innern:
Und du findest die Welt.

Das Ich lebt nicht in unserem Kopf, sondern im Umkreis, eng verbunden mit unserem Willenswesen, das sich vor allem in unseren Taten manifestiert. Und indem die Mitwelt uns diese zurückspiegelt, erfahren wir erst etwas über unser eigenes Wesen. Wie lässt sich jedoch lebendiges Weltinteresse wecken, wenn Kinder und Jugendliche immer mehr in natur- und praxisfernen Lebensverhältnissen leben, sinnlich und seelisch eingeschränkt werden und zunehmend in virtuellen Scheinwelten zu versinken drohen? Es ist eine pädagogische Herausforderung, Lernumgebungen zu schaffen, die eine authentische sinnliche und seelische Weltbegegnung ermöglichen. Diese finden sich kaum mehr in Klassenzimmern. Mehr denn je brauchen wir Lernorte und -konzepte, welche die Jugendlichen unmittelbar ans reale Leben heranführen. Für derartige Lernkonzepte steht seit einigen Jahren der Begriff »Lebenslernen«.

Es ist das Verdienst von Thomas Stöckli, dieses Konzept als zukunftsträchtigen jugendpädagogischen Ansatz dargestellt und bildungswissenschaftlich begründet zu haben. Ich möchte unter den beiden Aspekten Selbstfindung und Überwindung der Naturentfremdung einige Gedanken zum päda­gogischen Potenzial und zur praktischen Umsetzung dieses Lernkonzepts beitragen, die auf über 20-jähriger Erfahrung mit hunderten Jugendlichen unterschiedlichster Herkunft im Rahmen der Bildungswerkstatt Bergwald (BWBW) basieren.

Bildungswerkstatt Bergwald

Seit 1995 führt die BWBW schulergänzende Projektwochen im Bergwald mit Schulklassen aller Schultypen durch, in denen am Beispiel der Gebirgsforstwirtschaft mitten in reale Lebens- und Wirtschaftszusammenhänge hineingeführt wird und Arbeitsaufträge ausgeführt werden, die sonst in den Händen von Forstfachleuten liegen. Die Jugendlichen werden von pädagogisch geschulten Fachleuten in Kleingruppen angeleitet, die auch für eine entsprechende Arbeitssicherheit sorgen. Methodisch geht es um Erfahrungs­-

lernen nach dem Prinzip handeln – erleben – verstehen. Nach teilweise anfänglicher Zurückhaltung zeigt sich fast durchgehend, dass die jungen Menschen geradezu darauf brennen, endlich etwas zu tun, was in der Welt gebraucht wird: von anderen Menschen und von der Natur. Viele sind es satt, stets nur durch Trockenübungen in der Schule gefordert zu werden. Bereits dieser Rahmen, das Eintauchen in eine für die meisten vollkommen unbekannte, lebendige Welt, öffnet die Seelen und die Sinne und weckt Neugier. Die Sinnfrage beantwortet sich bei den meisten Arbeiten fast von selbst, aus ihrer offenkundigen Notwendigkeit. Und als Antwort auf ihren Einsatz erfahren die Jugendlichen zumeist unmittelbare Wertschätzung, wie sie ihnen im Schulalltag kaum je begegnet, zum Beispiel durch das Feedback ihrer Gruppenleiter oder der Auftraggeber (Revierförster, Waldbesitzer). Im Spiegel der Mitwelt erleben sie ihre Selbstwirksamkeit, die Fähigkeit, aus eigener Kraft etwas Sinnstiftendes zu schaffen.

Mehr noch: Im fachlichen Reflektieren der auszuführenden Arbeiten wird ihnen klar, dass selbst die Natur auf ihr Wirken antwortet: indem sich etwa ein Schutzwald durch das Fällen alter Bäume schneller verjüngt, seine Schutzfunktionen dadurch gestärkt und nachhaltig gesichert werden; oder dass durch eine Jungwaldpflege die künftige Waldstruktur so verändert wird, dass sich die Biodiversität und die ökologische Stabilität des Waldes erhöhen und dadurch auch neue Lebensräume für Tiere und Pflanzen geschaffen werden.

»Unsere Bäume«

Wahrzunehmen, dass man schöpferisch wirkt, kann im Sinne der einführenden Hinweise zur Selbstfindung beitragen. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Erlebens der eigenen Identität ist die Identifikation mit dem eigenen Tun. Unzählige Male habe ich erlebt, wie deutlich dies bei solchen Arbeiten zum Ausdruck kommt: Nach nur einem Tag sprechen viele Jugendliche bereits von »unserem (selbst gebauten) Weg«, »unserem (gefällten) Baum«, »unserem (gepflegten) Jungwald« und es ist mehrfach dokumentiert worden, dass Jugendliche später zum Beispiel mit ihren Eltern an die Orte ihres Wirkens zurückkehren, um ihnen mit Stolz ihre Werke zu zeigen und zu erklären. Das bedeutet nichts Geringeres, als dass sie sich auf diesem Weg seelisch tatsächlich innig mit der Welt verbinden, Wurzeln schlagen.

Und die Wirkungen reichen noch weiter: Jugendliche reflektieren oft auch erstmals ihr eigenes Menschenbild – ein nicht zu unterschätzendes Element für die eigene Verortung in der Welt. Wie die meisten Zeitgenossen tragen sie mehr oder weniger bewusst das gängige darwinistische Menschenbild in sich: der Mensch, ein instinktloses Tier, ein »Irrläufer der Evolution«, ein Schädling der Erde.

Angesichts der gravierenden Umweltprobleme scheint sich dies ja auch zu bestätigen. Jugendliche fühlen sich dabei – wie viele andere Zeitgenossen – oft ohnmächtig, zuschauen zu müssen, wie wir tatsächlich unsere Lebensgrundlagen ruinieren. Wenn sie nun aber konkret erleben, wie sie durch ihr Handeln kreative Mitgestalter der Erde werden können, sichtbare und teilweise über Jahrzehnte wirkende positive Spuren hinterlassen, können nun auch ganz andere Aspekte in ihrem Menschenbild auftauchen: Der Mensch kann mit der Natur kooperieren und die Natur mit ihm in Dialog treten. Wir sind also grundsätzlich frei und durchaus fähig, die Zukunft auch lebensfördernd zu gestalten! Das kann Mut machen, sogar Begeisterung auslösen und das Ideal beflügeln, sich für eine bessere Welt einzusetzen. Solche Einsichten können zu biographisch prägenden Schlüsselimpulsen werden.

Ehrfurcht und Dankbarkeit

Ein weiterer pädagogisch wichtiger Gesichtspunkt, der im Bergwald besonders zum Tragen kommt, ist ein neues Erleben der zeitlichen Dimension: Hier wird in Jahrzehnten und Jahrhunderten geplant und gedacht. In einer BWBW-Projektwoche wird deshalb angestrebt, dass alle einmal bei der Holzernte und einmal in der Pflege oder Begründung des Jungwaldes, also am End- und Anfangspunkt des Lebenszyklus tätig ist.

Beim Fällen alter Bäume ernten wir kostbares Gewordenes aus längst vergangenen Zeiten. Das kann das Empfinden von Dankbarkeit und Ehrfurcht auslösen. So lesen wir bei der Analyse der Stammscheibe im Geschichtsbuch der Natur, aber auch unserer Kultur, wenn wir uns etwa gemeinsam vergegenwärtigen, bei welchen Jahrringen sich historisch Wesentliches ereignet hat. Nicht zuletzt gehören dazu auch die Jahre der eigenen Geburt der Jugendlichen, ihrer Eltern oder Großeltern. Und an einem anderen Tag werden junge Bäume gepflanzt und wir stellen uns vor, wie die Welt wohl aussehen mag, wenn diese so alt sein werden, wie die gestern gefällten. Und mitten drin zwischen Vergangenheit und Zukunft erlebt sich der junge Mensch in der Gegenwart als Mitgestalter im Zeitstrom des Weltlaufs. Man mag die besondere, erdende Bedeutung eines solchen Erlebens in der Pubertätszeit erahnen, in der Jugendliche verunsichert in der Welt stehen, in ihrer schwer fassbaren Zwischenwelt zwischen Kindheit und Erwachsensein.

Dass bei alledem, was auf diese Weise den Jugendlichen in einer solchen Projektwoche begegnet, auch eine innige Berührung und Verbindung mit der Natur entsteht, versteht sich von selbst. Eine wirkungsvollere Form von Umweltbildung und »Bildung für nachhaltige Entwicklung« lässt sich kaum vorstellen, zumal an dem Ort, wo der Nachhaltigkeitsgedanke seinen Ursprung hat, in der Schweiz seit 1874 sogar gesetzlich verankert ist und seither exemplarisch vorgelebt wird. Damit leisten solche Projektwochen unzweifelhaft einen wirkungsvollen Beitrag zur Überwindung der besorgniserregenden Naturentfremdung.

Natürlich wäre es wünschenswert, Jugendlichen nicht nur ein- oder zweiwöchige derartige Erfahrungen zu ermöglichen. Aufgrund der realen Bedürfnisse der Jugendlichen müssten heute sogar ganze Oberstufen nach dem Konzept »Lebenslernen« ausgerichtet werden, wovon es ja einige Beispiele im Waldorfbereich bereits gibt oder gab.

Leider ist jedoch für die allermeisten Schulen schon eine solche Woche außergewöhnlich. Immerhin zeigen unzählige Rückmeldungen von Jugendlichen, Lehrkräften und Eltern, dass selbst einzelne Wochen erstaunliche Wirkungen haben. Dies lässt hoffen, dass sie dazu beitragen, dass das pädagogische Potenzial und die Notwendigkeit von »Lebenslernen« in immer breiteren Kreisen erkannt wird.

Hinweis: Weiterführende und vertiefende Darstellungen zum Konzept und zur Methodik der BWBW sowie zu den Grundlagen und Hintergründen finden sich in meinem in dieser Ausgabe rezensierten Buch.

Zum Autor: Christoph Leuthold ist Forstingenieur und Ökologe, war 14 Jahre Oberstufenlehrer an der Rudolf-Steiner-Schule in Zürich und begründete die Bildungswerkstatt Bergwald.

Literatur: R. Steiner: Wahrspruchworte, Dornach 1978; T. Stöckli: Lebenslernen. Ein zukunftsfähiges Paradigma des Lernens als Antwort auf die Bedürfnisse heutiger Jugendlicher, Berlin 2011; Ch. Leuthold: »Lebenslernen«, Impulse zu einer ganzheitlichen Pädagogik, Bern 2017

www.bergwald.ch