Lernbereich Zukunft

Maria-Sibylla Hesse

Die Oberstufenlehrerin durchfährt ein Schreck: Vertretung des Hauptunterrichts in einer 6. Klasse der Potsdamer Waldorfschule. Beginn in fünf Minuten. Nach dem Morgen- und Zeugnisspruch frage ich, wer schon mal bei einer Demonstration von Fridays for Future mitgemacht hat: Die meisten Kinder melden sich. Ein Gespräch kommt in Gang und ich staune, was sie alles schon über den Klimawandel wissen. Wir diskutieren, was jeder Einzelne tun kann … Cecilie sagt, sie wolle wissen, woher ihre Kleidung kommt, Plastik vermeiden und bewusster konsumieren – ein Beispiel für ökologische Achtsamkeit in jungen Jahren.

Die Fridays for Future-Bewegung – die übrigens besonders stark von Mädchen und Gymnasiasten organisiert wird – hat es innerhalb eines Jahres geschafft, zu begreifen, dass eine Verhaltensänderung drängt. Nicht nur die Politik muss agieren, auch jeder Mensch im täglichen Schulleben ist gefragt. Also: Woher beziehen wir Strom? Woher unser Essen – und in welcher Qualität? Welcher Unterricht thematisiert Klima-Fragen? Können wir das Reiseziel der Abschluss-Kunstfahrt auch erreichen, ohne zu fliegen?

Ziviler Ungehorsam versus Schulhierarchie

Was für ein Bild: Ganz oben bei Wissenschaftlern und der UNO ertönt der Ruf nach klimaschützendem Handeln und Partizipation – und ganz unten fordert die nachwachsende Generation kontinentübergreifend das Gleiche. Dazwischen sitzt eine verkrustete Schulbürokratie, die mit einem fragwürdigen Neutralitätsgebot Demo-Teilnehmer mit unentschuldigten Fehltagen bestraft, was am Gymnasium dazu führen kann, die Zulassung zum Abitur zu verlieren und ein Jahr wiederholen zu müssen. Dabei ist doch Nichthandeln unentschuldbar!

Ich besuchte am Potsdamer Institute for Advanced Sustainability Studies einen Workshop zur gesellschaftlichen Transformation durch Potenziale von Fridays for Future für die Institution Schule. Ein Schulleiter äußerte, dass er keine vom Ministerium vorgeschriebene starre Regelung erhalten möchte, damit es mehr Freiheit gebe, um kreative und bildungsförderliche Lösungen zu finden.

Andere Schulen definieren die Demo-Teilnahme kreativ als Exkursion in Biologie, Geografie, Ethik, Politik oder sogar als Wandertag um. Wieder andere laden einen Scientist for Future zur Diskussion ein, erweitern ihr Gelände um einen eigenen Acker oder opfern Unterrichtszeit für ökologische Projekte in der Nachbarschaft. Als Motiv dienen die in den meisten Landeslehrplänen verpflichtenden Querschnittsaufgaben Globales Lernen oder Demokratiebildung.

In einigen Schulen bitten die Schüler, die 17 Ziele der von der UNESCO festgelegten Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zu integrieren.

Bildung für nachhaltige Entwicklung

Die Diskussionen zeigen: Den Fridays for Future-Anhängern ist es ein Anliegen, auch die Skeptischen mitzunehmen, die auf dem Land keinen Bus bekommen oder auch jene, die befürchten, die Privilegien einer Wohlstandsgesellschaft zu verlieren. Sie wollen Desinteressierte wachrütteln, Gleichaltrige, die annehmen, auf sie käme es sowieso nicht an. Wer meint, die Intoleranz gegenüber Andersdenkenden nehme zu, wird durch ihre penetrante Dialogbereitschaft, ihren wertschätzenden Umgang und ihre Achtsamkeit eines anderen belehrt. Sie sind gut vernetzt und ihre Sprecher beanspruchen nicht, für die gesamte Generation zu stehen.

Schwänzen und Secondhand-Kleidung

Ziel der jungen FfF-Leute ist nicht, das deutsche Schulsystem umzukrempeln, auch wenn das Schwänzen implizit eine Kritik am herrschenden System darstellt. Allerdings wächst die Unzufriedenheit mit einer aus dem 19. Jahrhundert überkommenen industrieförmigen Schule, die kaum die Behandlung weltweiter Probleme vorsieht – schon gar nicht die Einübung von zivilem Ungehorsam.

Viele Waldörfler versuchen ernsthaft und ziemlich konsequent, ihren Lebensstil in Einklang mit der Kreislaufwirtschaft zu bringen: Schulbrot kommt in die auswaschbare Dose oder ins Wachstuch, Autofahren wird vermieden; Kleidung besorgen sich etliche secondhand – jetzt scheinen die bunten Ökos der 90er-Jahre ihr fröhliches Comeback zu feiern. Und doch stellt sich die Frage, wie wir jenseits des Privaten Gestaltungsspielräume für eine neue Schulkultur eröffnen können, um Verantwortung für uns selbst, die Mitmenschen und unseren Planeten wahrzunehmen? Die Initiative »Schule im Aufbruch« schlägt dafür einen wöchentlichen Frei-Day vor, um sich mit ungetakteter Zeit, in fächerverbindenden Projekten und engagiert handelnd dem Lernbereich Zukunft zu widmen. Denn die Systemfrage wird sich stellen – spätestens, wenn der weltweite Mentalitätswandel Richtung Nachhaltigkeit zu langsam vorangeht, weil wir nicht aus unserer Komfortzone herauskommen.

Träumen ist zielführend

Auf der Suche nach Leuchtturmschulen für die gesellschaftliche und ökologische Transformation müsste man eigentlich bei Waldorf fündig werden. Wie frei, wie innovativ sind wir?

Wir brauchen Antworten auf der ökologischen Ebene: Wir müssen unseren Lebensstil dekarbonisieren und dabei auf alle täglichen Handlungsfelder achten. Vom Schultransport über biologisch-dynamisch produzierte Lebensmittel der Schulküche und Photovoltaik auf dem Schuldach bis hin zur politischen Einmischung muss sich zeigen, ob wir die Hindernisse für Klimaneutralität erkennen und beseitigen. Es gilt, unseren Traum von einer heilen Welt in ein Narrativ zu übersetzen, das uns dabei trägt, nachhaltig unsere Umgebung zu transformieren.

Auf der pädagogischen Ebene können wir die Impulse der heutigen jungen Generation, die an diesen Zukunftsaufgaben mitwirken will, aufgreifen und uns als Schule des Lebens in unserer Kommune einbringen, um gegen ökologische Ungerechtigkeiten zu kämpfen. Wie weitgehend dürfen unsere Schülerinnen und Schüler wirklich mitgestalten? Haben wir – Alt und Jung – Lust zu lernen, wagen wir den Realitätsbezug außerhalb unserer Fächer? Verweigern wir uns der alten Leistungslogik und machen wir selbstorganisiertes Lernen und mutiges Handeln zu unserer neuen Kernkompetenz?

Das Schwierigste ist – und damit sollten wir am besten gleich anfangen –, unsere Gewohnheiten in Frage zu stellen, weil wir es ernst meinen mit der Verantwortung für Mutter Erde.

Links: fridaysforfuture.de/forderungen | scientists4future.org | bne-portal.de/de/einstieg | schule-im-aufbruch.de | www.fairtrade-schools.de | iass-potsdam.de

Zur Autorin: Maria-Sibylla Hesse unterrichtet an der Waldorfschule Potsdam in der Oberstufe Geschichte, Kunstgeschichte, Politik und Projekt.