Mehr Ruhe im Klassenzimmer

Rosemarie Szemkus

Haltungsschwächen wie Rundrücken, Hohlkreuz, seitliche Verkrümmungen der Wirbelsäule, enger Kiefer und enge Hüften; Gangauffälligkeiten, wie innen- oder außenrotierte Hüften, beim Gehen sichtbar an den Füßen, sowie Zehenspitzengang oder über die eigenen Füße fallen; Probleme mit Fein- und Graphomotorik; unzureichende Impulskontrolle; akustische oder visuelle Wahrnehmungsstörungen; häufig auch Probleme in der Sprachentwicklung, die eine logopädische Behandlung erfordern; mangelnde Kopfkontrolle, d.h. die Kinder stützen beim Schreiben ihren Kopf ab oder er sinkt runter, dass die Nase fast das Blatt berührt – all das gehört zu den Symptomen und die Liste ließe sich erweitern. Dazu kann es in der Folge häufig zu Frustrationen, Ängsten, depressiven Störungsbildern und sozialen Problemen sowie zu Lern- und Teilleistungsstörungen kommen.

Aus diesen Beobachtungen heraus kann man die Kinder in zwei verschiedene Gruppen einteilen: Zu der einen Gruppe gehören die Kinder, die primär einen zu schwachen Muskeltonus haben. Diese Kinder wirken eher schwerfällig, tollpatschig und sind langsamer in der Bewegungsentwicklung. Dem gegenüber gibt es die andere Gruppe von Kindern, die überwiegend angespannt und ständig in Bewegung sind, Verfrühungen in der Bewegungsentwicklung zeigen und in motorischen Dingen, die schnell gemacht werden können, durchaus sehr geschickt sind. Ist Langsamkeit und Genauigkeit in der Schule gefragt, zeigen sich nicht selten Probleme im feinmotorischen Bereich.

Frühkindliche Reflexe und Haltungsauffälligkeiten

Beide Gruppen von Kindern haben eine Störung in der Grundmuskelspannung, eine sogenannte »Zentrale Koordinationsstörung«. Das Zentralnervensystem konnte nicht vollständig ausreifen, wodurch die Grundmuskelspannung und die Kopfkontrolle instabil bleiben und die frühkindlichen bzw. Primitivreflexe noch auslösbar sind. Günther Imhäuser, Anton Hopf und Helmut Rösseler wiesen in ihrem Buch »Praktische Orthopädie« auf den Zusammenhang von frühkindlichen Reflexen und Haltungsauffälligkeiten hin.

Doris Bartel, Begründerin der Rotatherapie, schreibt dazu: »Der Mensch wird, um auf seine Umwelt reagieren zu können und um erste Erfahrungen zu machen, schon vorgeburtlich mit sogenannten frühkindlichen oder primitiven Reflexen ausgestattet. Jeder dieser Reflexe gehört zur normalen Entwicklung des Menschen und hat ein bestimmtes Muster. Reflexe sind stereotyp und reagieren zwanghaft. Wird der Reflex ausgelöst, muss der Körper in einem bestimmten Muster reagieren. … Hat ein Reflex seine Aufgabe in einem bestimmten zeitlichen Rahmen erfüllt, so wird er von willkürlichen Bewegungen, die auf höherer Ebene der Gehirnentwicklung stattfinden, abgelöst und integriert. Bleiben frühkindliche Reflexe zu lange aktiv, so deutet dies auf eine Unreife des Zentralnervensystems hin.« Und der Arzt und Heilpädagoge Georg von Arnim schreibt hierzu: »… diese Reflexe spielen sich also ganz innerlich ab, verbinden Kopf und Gliedmaßen, aber nicht den Leib mit der Welt. Sie sind bei der Geburt vorhanden, dürfen aber nicht bestehen bleiben.«

Zu hoher und zu schwacher Muskeltonus

Wir haben es hier mit komplexen Problemen zu tun. Da gibt es eine Gruppe von Kindern, bei denen der zu schwache Muskeltonus vorherrschend ist. Die betroffenen Kinder müssen sich deutlich mehr anstrengen, um mit anderen mitzuhalten. Sie sind schneller erschöpft. Diese Kinder haben meist weiche Gesichtszüge, einen häufig geöffneten Mund, die Zunge wirkt schwer vorne im Mund liegend, im Sitzen sacken sie zusammen und sie haben einen schwachen Händedruck. Sie wirken häufiger verträumt, wie abwesend. Auf dem Boden sitzend bevorzugen sie den Zwischenfersensitz und zeigen Haltungsauffälligkeiten wie Rundrücken oder Plattfüße. Die Körperkoordination ist eingeschränkt und die Bewegungen unbeholfen. Werden die Kinder älter, kann es zu einer reaktiven Überspannung durch die noch auslösbaren frühkindlichen Reflexe kommen. Bei ihnen zeigen sich dann neben dem schwachen Grundtonus zu hohe muskuläre Spannungen wie bei den folgenden Kindern beschrieben.

Diese Kinder, die zu der zweiten Gruppe gehören, müssen sich immer wieder bewegen, um die Anspannungen, die durch die noch auslösbaren frühkindlichen Reflexe entstehen, auszugleichen. Sie neigen zu Verkrampfungen in den Händen, im Schulter-Nackenbereich oder auch im ganzen Körper. Die Bewegungen sind schnell, wirken abgehackt, weiche fließende Bewegungen sind nur schwer möglich. Sie sind sehr sinnesoffen und reagieren übersensibel auf Außenreize, wobei sie die Wahrnehmungen nur schwer filtern können. Bei ihnen können wir oft Asymmetrien im Aussehen, in der Haltung und Bewegung beobachten. Die noch auslösbaren frühkindlichen Reflexe stören die freie Körperkoordination sowie die Kraftdosierung und können zu unkontrollierten Körperbewegungen führen.

Im Zusammenhang mit der Tonusfehlregulation weisen beide Gruppen eine zu schwache Kopfkontrolle auf. Das bedeutet, der Kopf kann nicht selbstverständlich unabhängig von allen anderen Muskeln gegen die Schwerkraft gehalten und bewegt werden. Um diese physiologische Unreife zu kompensieren, müssen  Muskeln im Körper zusätzlich mit angespannt werden, die bei einer stabilen Grundspannung nicht benötigt werden. Dies erfolgt meist unter Aktivierung der frühkindlichen Reflexmuster. Die Muskulatur verbraucht in diesem physiologisch unreifen System mehr Energie und Sauerstoff, als dies bei gut reguliertem Normotonus der Fall ist. Diese Energie fehlt den Kindern in der Folge beim Lernen und konzentrierten Arbeiten, wodurch sie ihre intellektuellen Möglichkeiten nicht ausschöpfen können. Im Klassenzimmer können wir beobachten, dass sie den Kopf beim Schreiben zu einer Schulter geneigt halten oder ihn abstützen, bei anderen sinkt die Nase fast bis auf das Blatt.

Ursache der genannten Phänomene und damit für viele Schulprobleme ist häufig eine nicht vollständig durchlaufene motorische Entwicklung mit im Schulalter noch aktiven frühkindlichen Reflexen. Wenn die Störung nicht zu stark ist, kann es sein, dass die betroffenen Kinder die Probleme durch Ausbildung einer Ersatzmotorik kompensieren können. Hierzu schreibt Markus Peters: »Es wird nicht gesehen, dass eine verzögerte motorische Entwicklung zwar leiblich gut aufgeholt werden kann, aber meist mit der Entwicklung einer Ersatzmotorik einhergeht und dann später in der Schule zu Lernproblemen führt.«

Die wichtige Frage, die sich im Rahmen des Schulunterrichtes stellt, ist: Wie kann den betroffenen Kindern gezielt geholfen werden?

Nachreifung fördern durch Rotatherapie

Zunächst wäre es wünschenswert, dass sie eine gezielte Therapie zur Nachreifung der motorischen Funktionen erhalten. Hier hat sich die Rotatherapie bewährt. Durch neurophysiologische Rotationsübungen, die an das Alter und den Grad der Betroffenheit individuell angepasst werden, können die Fehlsteuerungen der Ersatzmotorik – das ist die Motorik, die die ursprüngliche Schwäche kompensiert – gemildert oder sogar ganz überwunden werden. Die therapeutischen Übungen knüpfen an die Bedingungen der Bewegungsentwicklung im ersten Lebensjahr an. Die wichtigsten Impulse sind die Drehung um die Achse des eigenen Körpers im Raum und die Rotation der Wirbelsäule in sich. Diese Impulse können eine Nachreifung des Zentralnervensystems anbahnen und so regulierend auf den Muskeltonus wirken. Die zu niedrige oder zu hohe Körperspannung kann ausgeglichen werden und die Kopfkontrolle wird stabiler. Dadurch werden die körperlichen Voraussetzungen geschaffen, dass die Kinder ruhig und aufrecht sitzen und in der Folge sich besser auf den Unterrichtsstoff konzentrieren können.

Aber auch die Alltagsgestaltung der betroffenen Kinder ist für die Reduzierung der Anspannung wichtig. Diese Kinder brauchen in besonderer Weise einen strukturierten Alltag, indem sie sich gut orientieren können und Stress vermieden wird. Sinnvoll sind je nach Tätigkeit ange­passte gute Sitzmöglichkeiten, um den Rücken zu entlasten. Es kann sein, dass eine Zeit lang bestimmte Sportarten reduziert werden sollten, wenn dabei die frühkindlichen Reflexe aktiviert werden. Zusätzlich ist es wichtig, zu beobachten, ob das Kind im Schlaf in Anspannung kommt. Wenn dies der Fall ist, wird mit den Eltern besprochen, welche individuellen Möglichkeiten es gibt, das zu vermeiden. Die Möglichkeiten sind davon abhängig, welche Reflexe verstärkt auslösbar sind. So kann es eventuell hilfreich sein, das Kind so zu lagern, dass im Schlaf eine Rotation der Wirbelsäule ermöglicht wird. Die therapeutischen Maßnahmen greifen umso besser, je weniger erstens die Reflexe ausgelöst werden und zweitens die Kinder im Alltag auf die Ersatzmotorik zurückgreifen müssen.

In der Schule können die Kinder durch eine strukturierte Arbeitsplatzsituation und eine optimale Sitzposition gut unterstützt werden. Feste Stühle mit Rückenlehne, die in der Höhe so abgestimmt sind, dass die Füße bequem auf dem Boden stehen und die Knie und Hüfte ca. 90 Grad gebeugt sind, unterstützen die Haltung. Die Unterarme sollten bei einer Beugung von 90 Grad im Ellenbogengelenk auf der Tischplatte abgelegt werden können. Der Körper sollte während des Schreibens und Lesens gut und flächig angelehnt sein. Das Blatt zum Schreiben oder das Buch zum Lesen sollten idealerweise auf einer schrägen Unterlage liegen und dem Kind entgegenkommen, damit der Körper angelehnt bleiben kann.

Alle oben genannten Kinder können nur mit Stütze längere Zeit gerade sitzen, ohne sich zu überanstrengen oder sehr unruhig zu werden. Ohne Stütze würden sie den Rücken zu stark anspannen, was wiederum die Feinmotorik einschränkt, oder sie müssen sich zum Ausgleich ständig bewegen. Wenn der Rücken flächig angelehnt bleiben kann, wird er gestützt. Die Kinder können länger ohne Anstrengung ruhig sitzen. Der Kopf kann in der Körperlängsachse gehalten werden und muss nicht, wie beim nach vorne geneigten Körper, aktiv gegen die Schwerkraft gehalten werden. Die unwillkürlichen Körperbewegungen, die beim Heben des Blickes zur Tafel und Senken des Kopfes zum Heft durch die noch auslös­baren frühkindlichen Reflexe auftreten können, werden so minimiert.

Die Erfahrung zeigt: Ruhig sitzende Kinder können sich besser konzentrieren, machen weniger Fehler, klagen beim Schreiben weniger über Schmerzen in der Hand und im Nacken, können besser lesen und stören weniger die Tischnachbarn. Diese Erfolgserlebnisse stärken die Motivation und das Selbstbewusstsein. Es ist immer wieder erfreulich, zu erleben, dass sich die ersten Erfolge meist schon nach wenigen Wochen einstellen und durch sie die Motivation von Eltern und Kindern, die notwendigen motorischen Übungen weiter zu verfolgen, erhalten bleibt.

Zur Autorin: Rosemarie Szemkus ist Heilpraktikerin, Rota®Therapeutin und Anthroposophische Kunsttherapeutin (BVAKT)®, www.kunst-rota-therapie.de

Literatur:

G. Hüter, H. Bonney: »So geht es nicht mehr weiter«. In: Neues vom Zappelphilpp, Weinheim, Basel 2012 | G. Imhäuser, A. Hopf und H. Rösseler: »Prophylaxe, Früherkennung und Frühbehandlung der sogenannten Säuglingsskoliose«. In: Praktische Orthopädie, Bd. 4, Bruchsal 1973 | D. Bartel, S. Kocher: »Frühkindliche Reflexe«. In: Der gesunde Dreh, Offenbach Juni 2013 | G. v. Arnim: »Die Bedeutung der Bewegung in der Heilpädagogik«. In: Die menschliche Nervenorganisation, Teil 1, Stuttgart 1992, S. 235 ff. | M. Peters: »Zum Verständnis von Lernschwierigkeiten in der Schule«. In: Medizinisch-Pädagogische Konferenz, Nr. 33, Stuttgart 2005, S. 24