Klassenzimmer

Meine schreibende Hand … Kreatives Schreiben als Schöpferkraft im Unterricht

Heidrun Adriana Bomke

Die Stifte gleiten über die Blätter. Ich mag dieses Geräusch, das den Raum ganz erfüllt. Junge Gesichter schauen sinnend auf die Worte, die entstehen. «Was führt meine Hand?», so die Anregung. Eine von vielen im künstlerisch-praktischen Unterricht (KPU) Kreatives Schreiben, den ich seit 2019 an der Freien Waldorfschule Havelhöhe in Berlin gestalte.

Die Rondelle entstehen mühelos. «Die Hand schreibt, als ob sie die Gedanken kennt», so sagt Camille und berührt die Magie des Schreibens. Eine junge Frau fasst es in die Worte: «Zum ersten Mal passt die Beschreibung: Die Worte flossen förmlich aus mir heraus … sie kamen aus dem Inneren. Aus meinem Herzen. Aus meiner Seele.»

Genau darin liegt die große Chance des Unterrichtsfaches! Dem Analytischen das Intuitive, dem Intellekt die Sprache des Herzens zur Seite geben. Weitab von mechanistisch-normativen Vorgaben schöpferische Freude gedeihen lassen. Begeisterung! Lina hat sie gefunden in ihrem Rondell:

Meine schreibende Hand
Mit ihr ziehe ich freudig ins Land
So wird mir Unbekanntes bekannt. [...]

Schreiben als Entdecken. Welche Herzensfreude breitet sich aus, als diese Worte gelesen werden! Wir alle brauchen sie so, die fliegende Heiterkeit, herzliche Offenheit und mutige Zuversicht. Denn auch der Hörende ist wie der Schreibende ein Mensch des Herzens. Mein Schreibmotto, das den Kurs begleitet, gebe ich in die Runde:

Die beste Art, zu schreiben ist mit den ureigenen Worten und diese fließen
unmittelbar aus dem Herzen in die Hand.

Das Herz ist unser wahres Selbst. Meine Erfahrung ist seit 15 Jahren kreativer Schreibkurse mit jungen Menschen: Jede und jeder findet seinen inneren Schreiber, die innere Schreiberin, den Ansatz dazu. Er ist kostbar wie ein kleiner Diamant im eigenen Herzen, in der eigenen Hand. Es ist die Ahnung von Vollkommenheit in poetischer Gestalt.

Zur Quelle bewegen wir uns in 30 Stunden KPU innerhalb von fünf Wochen. Die Natur mit Vogelgezwitscher, dem Rauschen der Bäume, der Sonne ist dabei genauso unser Zuhause wie die Stille. Wir üben Achtsamkeit, das In-sich-Hineinhorchen. Innehalten wird als Wohlgefühl erlebt. Den Geist an die Natur anschmiegen, mit ihr ins Gespräch kommen ist heilsam. Milena schreibt in ihrem Gedicht «Freiheit»:

Unendliche Weite
Wo stehe ich?
Sich findend
Nach Hause kommen.

Liest man das Gedicht, gleitet der Geist an einen Ort der Selbstliebe, die mehr ist als man selbst. Silas schreibt:

Freiheit heißt, sich auf eine bestimmte Art und Weise sicher zu fühlen, ohne einen Zwang zu haben. Freiheit heißt Leichtigkeit.

Eine fantastische Wahrnehmung des geistigen Wesensgrundes! Empfindungen finden erste kreative Formen. Wo gibt es heute noch Stille? Die jungen Menschen schätzen sie.

Eine gemeinsame Energie schwingt in der Gruppe von zehn bis vierzehn Menschen: Mit-ein-ander. Das Schreiben an einem Rondell, einem Wortwechsel, einer Geschichte, das Sammeln von inneren Bildern, das Wahrnehmen des Anderen sensibilisieren.

Kreatives Schreiben ist in dieser Art und Weise immer auch biografische Begleitung. Dessen sollte man sich als Lehrende bewusst sein.

Nach einer poetischen Meditation im kreisförmigen Liegen schaue ich in entspannte Gesichter. Jemand sagt, dass es die Stille war, eine Stille, die er kaum noch kenne, die ihm so gutgetan. Danach schreiben wir spontan ohne Reden einen Text auf ein A2-Blatt. Jede und jeder einen Satz. Der erste Satz ist: «Der Wind rauschte und wehte alles durcheinander.» Das Blatt kreist. Wir lesen den Text, alle lesen ihn laut. Der Text endet mit dem Satz: «Aber ist das jetzt das Ende oder gerade erst der Anfang?» Unendlichkeit scheint auf. Wir suchen gemeinsam den Titel. Der Text, ein Bewusstseinsstrom, heißt «Schmerz der Freiheit». 14 Sätze, 14 Schreibende. Und hinter jedem Satz wartet gleichsam eine ganze Geschichte! Daraus entstehen in Gruppen weitere Formen: ein Hörstück, die Verwandlung in eine Poesie, eine Kurzgeschichte, Essais zum Thema Freiheit, Sprechen und Denken, meine Lebensreise, Glück. Kreatürlichkeit gedeiht!

Die Offenheit hin zum eigenen Wort braucht immer das Schweigen. Wörter wollen eingeladen sein. Sarah fasst dieses Erkennen in Poesie:

Im Schweigen mit dem Mund / und dem Gesang unserer Gedanken/ taten unsere Seelen sich kund []

Sie kreiert ein Bild für die Hingabe an das innere Lauschen als Vorhof der Worte.
Es sind unsere jungen Menschen zwischen 15 und 18 Jahren, die im schöpferischen Reich des Wortes tiefe Sinnfragen stellen: Themen wie Freiheit, Wandel, Vertrauen, Verantwortung, Liebe, Wahrheit. In einem Text – er ist fast ein Schrei – heißt es:

Niemand hat gefragt, ob man leben möchte,
Niemand gefragt, ob man dazu bereit ist [
]
Jetzt bin ich, irgendwie
suchend nach mir selbst [
]
Nach etwas Wahrem [
]

Es gibt so viele Wirklichkeiten, verwirrend viele. Doch was ist wahr? Der Zweifel ist allgegenwärtig. Wie fühlt sich die eigene Wahrheit an? Die Schreibenden spüren diesen Balanceakt, haben ein feines Sensorium für Manipulation, Ignoranz, Machtgehabe, Druck und sehnen sich tief nach Respekt, Gesehenwerden, Liebe und eben Wahrheit.

Eine zentrale Frage für die Führung der Schreibprozesse folgt daraus: Wie kann innere Führung, wie kann Vertrauen im Schöpferischen wachsen?

Eine Übung. Lieblingsthema 2022 war die Wortgruppe von Marlene: «Ein leerer Raum». Wie bewege ich mich darin? Wer hilft mir, wenn ich nicht weiterweiß? An welchen Werten orientiere ich mich? Wie finde ich meine Tür?, um es kafkaesk zu sagen. Man schreibt sich also gestaltend und begleitet «in etwas hinein, hindurch und wieder heraus», wird zum/zur Held:in im eigenen Leben. Bei Luisa entsteht so «Eine schöne Geschichte» als anekdotische Metamorphose. Mira fasst es in ein Selbstbekenntnis:

Ich begreife leicht / Die Leere hat zwei Gesichter. / Eines bleich und hohl, / Macht uns einsam, kalt und ratlos. / Eines verborgen, hell erscheints, / Macht uns zu dem, was wir sind.

Das Instabile, Überreizte, die Erfahrung, dass alles von einem Tag auf den anderen komplett anders, ja bedroht sein kann, hat genauso einen Platz auf dem Papier, im Austausch wie das Wagnis zum Neuen.
Schreiben bedeutet Schönheit, Verankerung, Salutogenese. Es entstehen Poesien – das Herzstück – wie die in der «Erziehungskunst» abgedruckten. Es war ein Foto mit einem blauen Herz im Sand, das die Poesie Wer man ist von Luise anregte – hochgehalten von mir vor dem Bildschirm, denn wir waren eine Schreibepoche digital. Der letzte Vers soll noch einmal erklingen:

Und der dunkle Himmel ließ einem klar werden
wer man ist und wer man sein sollte.

Tiefe Dankbarkeit erfüllt mich. Eine Fülle von Texten habt ihr jungen Menschen in die Welt gegeben. So viele Herzworte für eine neue Gemeinschaftskultur! Es gab öffentliche Lesungen zu Festen, Monatsfeiern und als Abschluss der Kurse. Ihr hattet Mut, euch wahrhaftig in der Poesie zu zeigen. Die Worte Hilde Domins vom dreifachen Mut eines Dichters tragt ihr in euch. Ich freue mich, dass ihr wahrhaftig da seid, freue mich auf magische Begegnungen im Zauber-Wort-Raum!

Mit einem Vers beende ich den Ausflug in die Welt des kreativen Schreibens als Mosaikstein im KPU der Oberstufe. Ich schrieb ihn 2020, als wir alle in der Junisonne an einem alten Baumstamm in der Senke unweit der Schule Platz genommen – ein ewiger Augenblick:

Der alte Baum hat junge Äste bekommen
Sie haben sich zu ihm gesetzt.

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