Mit dem Boot in die Oberstufe. Eine etwas andere Klassenfahrt

Andreas Tilg

Am Anfang dieses Bootsprojekts stand eine vom Klassenlehrer abgegebene Schülerschar, die ihre Gemeinschaft und Identität im Schulzusammenhang neu definieren musste. Sie baute die ersten Sperrholzboote und ließ sie stolz auf der Lahn zu Wasser. Die positiven Erfahrungen aus diesem Projekt beflügelten die Verantwortlichen, auch in den darauffolgenden Jahren ein Boot zu bauen und auf große Fahrt zu gehen. Die Erfahrungen aus den Vorjahren flossen in jedes aktuelle Projekt ein, so dass sich der Bootsbau ständig weiterentwickelte. Aus Zweierbooten wurden selbst gezeichnete Dreierkajaks, dann Kanadier in »Skin-On-Frame«-Bauweise und schließlich zwei 7,5 Meter lange Umiaks. Umiaks gehören neben Kajaks zu den arktischen Fellbooten und werden seit Jahrhunderten von den Inuit zum Transport großer Gepäckmengen gebaut. Unsere Umiaks bieten jeweils 12 Personen Platz.

Je nach Klassensituation kamen in Absprache mit dem Klassenlehrer auf den letzten Fahrten unterschied­liche Boote zum Einsatz. Denn in einem Mannschaftsboot, gesteuert von einem Betreuer, erleben die Jugendlichen andere Prozesse und sind in andere Zusammenhänge gestellt als in einem Zweierkajak, in dem sie sich weitgehend eigenständig den Weg durch die Fluten suchen müssen.

Die Grünholzboote

Nachdem die Größe der Boote in den schulischen Werkstätten kaum noch zu steigern war, besannen wir uns auf die Grundintentionen. Wir wollten weniger Material verwenden und das Bauprinzip vereinfachen, um den Schülern möglichst tiefreichende Erfahrungen zu ermöglichen. Das Ergebnis dieser Überlegungen stellt das »Grünholzbootsprojekt« dar, das die Schüler der letzten Klasse 8 im Frühsommer 2012 an der Weser anpackten. Die besagten Achtklässler fuhren erstmals mit der Zielsetzung an die Weser, direkt vor Ort mit einfachsten Mitteln in eineinhalb Tagen vier Zweierkanus eigens für diese Fahrt zu bauen. Im Vorfeld sorgte diese Idee bei Schülern und Eltern für Verwunderung und Skepsis.

Der verantwortliche Lehrer konnte jedoch auf mehrere Testläufe verweisen und überzeugte mit seinem Enthusiasmus. Das archaische und gleichzeitig hoch funktionelle Bauprinzip der »Umiaks« bildete die Grundlage für dieses mutige Unterfangen. Das Holzpaddel hatte sich jeder Schüler im Werkunterricht selber nach seinen Körpermaßen angefertigt und nach eigenen Vorstellungen gestaltet. Nach ihrer Ankunft zählten aufmerksame Schüler die Sitzplätze in den mitgebrachten Großbooten und stellten fest, dass acht Plätze fehlten. Dies machte unmissverständlich klar, dass diese Unternehmung kein Testlauf sein sollte und die Ankündigungen ernst gemeint waren: Es mussten neue wasserdichte und schwimmfähige Boote gebaut werden.

Bau und Taufe

Die Wiese vor einem Bootshaus am Flussufer verwandelte sich in eine Freiluft-Bootswerft. Unter Anleitung des Werklehrers und mit Unterstützung mehrerer Betreuer knoteten die Arbeitsgruppen in den kommenden Stunden vorgesägte Holzleisten, Krummhölzer und frisch geschnittene Haselruten zu stabilen Bootsrahmen zusammen. Fleißig wurde mit Säge, Schnitzmesser und Bohrwinde gearbeitet, um die Hölzer zusammenzufügen. In einem Wechsel aus Einzel- und Gruppenarbeit bildeten sich langsam bootsähnliche Holzgestelle. Beim Einbiegen und Verknoten der Haselnuss-Spanten mussten gleichzeitig viele Hände zugreifen, was neben den rein handwerklichen auch kommunikative Fähigkeiten erforderte. Die Schülerinnen und Schüler mussten sich miteinander verständigen, sich organisieren, bereitwillig Hilfe geben und annehmen. Am Ende des Rahmenbaus waren die Holzgerippe mit Hanfschnur fest verknotet und konnten mit Kunststofffolie wasserdicht überzogen werden.

Die Wahl der Bootsnamen erhitzte nun die Gemüter und anschließend wurden die bisher latenten Fragen offen ausgesprochen: Wird unser Boot wohl schwimmen? Kippt es schnell um? Wer traut sich die Testfahrt zu? Nach der feierlichen Bootstaufe beantworteten sich die Schülerfragen augenblicklich beim Einsetzen ins Wasser und den ersten Testfahrten. Eine gespannte freudige Erwartung wich rasch großer Begeisterung und tiefer Zufriedenheit bei den meisten Beteiligten, denn alle Boote erfüllten voll die Erwartungen.

Unausgesprochen wurde für die Schüler erlebbar, dass sie mit einfachsten Mitteln eine tragfähige Idee verwirklichen können – die Kernidee dieses Grünholzbootprojekts. Die Grünholzboote mit ihrem etwas abenteuerlichen Aussehen erregten bei jedem Anlanden mehr Interesse bei Passanten und anderen Wassersportlern als die schick lackierten Sperrholzboote der Vergangenheit. Stolz, fachkundig und selbstsicher berichteten die Schüler von dem Projekt und bekamen im Gegenzug reichlich Lob und Anerkennung.

Der Fluss als Bild

In den folgenden Tagen gab es auf dem Wasser, viele neue Herausforderungen zu bewältigen. Die Paddel- und Steuertechniken mussten ebenso erlernt und angewendet werden wie Sicherheits- und Vorfahrtsregeln, da wir uns auf einer »Bundeswasserstraße« bewegten. In jedem Zweierteam galt es, die Aufgaben zu klären, um das Boot »auf Kurs zu halten« und im richtigen Moment das Richtige zu tun. Gleichzeitig durfte der Blick für die Gesamtgruppe und die Verhältnisse auf dem Wasser nicht verloren gehen. Bei jeder Begegnung mit einer Seilfähre und auch großen Fahrgastschiffen war besondere Disziplin und Aufmerksamkeit gefordert; private Befindlichkeiten mussten augenblicklich ausgeblendet werden. Neben diesen mehr seelischen Anforderungen war das Durchhalten einer Tagesetappe schon eine körperliche und willensmäßige Herausforderung für einige. Am Ende der Reise waren sie zu Recht stolz auf das Geleistete.

Zudem erlebten die Schüler den Fluss als Bild für verschiedenste Lebenssituationen. In ruhigen Momenten des Pausierens und Dahingleitens war Zeit, die Gedanken schweifen zu lassen. Fragen nach dem »Bestimmen des eigenen Kurses« drängten sich ebenso auf wie die Erkenntnis, dass es unterschiedlichen Schülern unterschiedlich schwer fiel, »gegen den Strom zu paddeln«, um sicher anlegen zu können und nicht abgetrieben zu werden. Auch bemerkten die Jugendlichen schnell, dass ein Platz in den von Betreuern sicher gesteuerten Großbooten komfortabler und »chilliger« war, als in einem selbst gebauten. Das selbst gesteuerte kleine Kanu erforderte größere Anstrengung und Mut – der Kurs musste selbst bestimmt werden. Es belohnte seine Mannschaft jedoch eben durch die viel größere Selbstbestimmung wie auch Freiheit. Die Mannschaften der trägen Großboote hingegen bemerkten bei den »Elefantenrennen«, dass »der Kahn richtig flott werden kann, wenn alle mitziehen«. In Momenten, in denen ein Team rhythmisch »wie ein Mann« paddelte, schien man plötzlich viel mehr Kraft zu haben und erlebte eine befeuernde Dynamik, was mit folgenden Worten kommentiert wurde: »Wenn sich alle anstrengen, wird das Boot richtig schnell und es macht viel mehr Spaß als vorher!«

Abschied

Nach vier Paddeltagen und rund einhundert Flusskilometern war diese Unternehmung beendet. Die Boote hatten ihren Zweck mehr als erfüllt und wurden mit etwas wehmütigen Gedanken in der Schule demontiert. Bereits vor der Fahrt diskutierten die verantwortlichen Lehrer und Eltern über den Abschied von den selbst gebauten Booten. Es war den Beteiligten wichtig, den gesamten Bootsbau als dreischrittigen Prozess zu verstehen, zu dem außer dem Bau und der Fahrt auch ein ökologisch verantwortliches, bewusstes »Abgeben« gehört. Aus diesem Grund wurden außer der wieder verwendbaren Bootshaut bewusst Naturmaterialien verwendet. Die Schüler waren von Anfang an in diese Gedanken einbezogen und wussten, dass die Boote nur für ihre Fahrt gebaut wurden. Trotzdem fiel es einigen nicht leicht, die Bootsrahmen auseinanderzunehmen und sich von etwas Vertrautem zu trennen. Viel Arbeit war in jedes Boot geflossen. Hieraus ergab sich ein kurzes aber lohnendes Gespräch zum Thema »Abschied«, was die Achtklässler am Ende ihrer Klassenlehrerzeit gerade in besonderer Weise betraf. Letztlich waren sich alle einig: Was bleibt, sind die tollen Erinnerungen, denn »es sind die Augenblicke, die zählen, nicht die Dinge.«

Zum Autor: Andreas Tilg ist Werklehrer an der Freien Waldorfschule Hamm

Links: www.grünholz-erlebnisbootsbau.de; www.waldorfschule-hamm.de