Mittelhochdeutsch für Einsteiger. Das »Falkenlied« in der Nibelungen-Epoche

Matthias Kirchhoff

Inzwischen in der 10. Klasse angelangt, beschäftigen sich die Schüler erstmals mit einem der drei kanonischen Volltexte Nibelungenlied (10. Klasse), Wolfram von Eschenbachs Parzival (11. Klasse) und Johann Wolfgang Goethes Faust (12. Klasse), die der ansonsten recht große Freiheiten bietende Waldorf-Lehrplan letztlich verbindlich vorsieht.

Versifizierte und gereimte Erzählungen kennen die Schüler wohl schon aus Balladen Goethes und Schillers, also dem Erlkönig und der Bürgschaft. Aber Erzähltexte in Strophen sind ihnen vermutlich weniger vertraut, und ein über gut 4000 festgefügte Langzeilenstrophen dauernder »Roman«, der irreführenderweise »Lied« genannt wird, ist ihnen ganz gewiss noch nicht begegnet. Irritierender ist freilich noch die Sprache, in der dieser umfangreiche Text verfasst wurde: das Mittelhochdeutsche. Dieses
sieht vorderhand halb vertraut nach gegenwärtigem Deutsch aus, besteht ansonsten aber aus merkwürdigen Zirkumflex- und Ligaturzeichen wie â oder æ und wird – so meine Erfahrung – von nord- und mitteldeutschen Schülern eher für einen alpenländischen Dialekt, von süddeutschen hingegen meist für Niederländisch gehalten.

Aber selbst, wenn man mit dem Mittelhochdeutschen zurande kommen sollte, bietet die Handlung viel Befremdliches, das zweifellos manche Schüler fasziniert, aber auch nicht wenige abschreckt: Man hat es – neben allerlei fantasyartigen Orten und Begebenheiten – mit einer höfischen Anderwelt und ihren Gepflogenheiten zu tun, welche dem zeitgenössischen Publikum des Mittelalters intuitiv vertraut war, die über 800 Jahre später aber viele Rätsel aufgibt. Die Schüler fragen sich daher mancherlei, etwa: Wozu die ausgiebigen wie gleichförmigen Personennennungen, die – etwa bei Kriemhilds Brüdern Gunther, Gernot und Giselher – mehr an Donald Ducks Neffen als an ernstzunehmende moderne Personen erinnern? Was sollen die endlosen, heutzutage buchstäblich »lang-weiligen« »Schneiderstrophen«, Jagd- und Kampfschilderungen? Und wie erklärt sich das oft scheinbar unverständliche Handeln der Hauptfiguren wie Kriemhild oder Hagen, das sich dem modernen Psychologenblick entzieht, mit dem sich die Schüler neuzeitlichen Texten anzunähern gelernt haben?

Kurzum, es ist nicht leicht mit dem Nibelungenlied! Von daher mag es hilfreich sein, als Brückenschlag zu diesem Großtext ein kleineres, noch älteres und durchaus prominentes mittelhochdeutsches Werk zu benutzen.

Die literarische Wollmilchsau des 12. Jahrhunderts

Das nach der Mitte des 12. Jahrhunderts entstandene zweistrophige Falkenlied birgt gleich ein ganzes Bündel verschiedenartiger Vorteile für die Nibelungenlied-Epoche. Es stammt vom ersten namentlich bekannten deutschen Lyriker namens Der von Kürnberg oder Der Kürnberger, wobei über die Lebensumstände des Verfassers – wie oftmals bei mittelalterlicher Literatur – nichts bekannt ist.

Ich zôch mir einen valken  mêre danne ein jâr.
dô ich in gezamete,  als ich in wolte hân,
und ich im sîn gevidere  mit golde wol bewant,
er huop sich ûf vil hôhe  und vlouc in anderiu lant.

Sît sach ich den valken  schône vliegen,
er vuorte an sînem vuoze  sîdîne riemen,
und was im sîn gevidere   alrôt guldîn.
got sende sî zesamene,  die gelieb wellen gerne sîn!

Ich zog mir über ein Jahr lang einen Falken auf. Als ich ihn gezähmt hatte, wie ich es mir vorstellte, und ich ihm sein Gefieder schön mit Goldbändern umwunden hatte, erhob er sich sehr hoch in die Lüfte und flog in andere Länder[eien] fort. Seither sah ich den Falken anmutig fliegen, er trug an seinem Fuß seidene Riemen, und sein Gefieder war rot-golden. Gott führe diejenigen zusammen, die einander gerne lieben wollen.

Auf verschiedenen Ebenen scheint es mir sinnvoll, dieses kurze Gedicht als Lern-Brücke zum Nibelungenlied zu nutzen, etwa im rhythmischen Teil zu Beginn der einzelnen Hauptunterrichtseinheiten. Mögliche »Brückenköpfe« möchte ich nachfolgend nach Gesichtspunkten separiert darstellen.

Strophenbau

Der Aufbau dieser beiden Strophen ist bekanntermaßen identisch mit dem der Strophen des Nibelungenliedes.
Etwas vereinfacht: vier Langzeilen mit mittlerer Zäsur, die sogenannten »Anverse« mit vier Hebungen, die »Abverse« mit jeweils dreien – mit Ausnahme des letzten »Abverses«, der durch eine »beschwerte Hebung« ebenfalls vier Hebungen hat. Da das Falkenlied bis zu zwei Generationen älter ist als das Nibelungenlied, mag es nicht nur für das Erschließen von Rhythmus und Metrum, sondern auch aus entstehungsgeschichtlicher Perspektive interessant sein. Meine Erfahrung ist, dass Schüler, denen man die Aufgabe gibt, das Falkenlied mit dem »Falkentraum« aus dem Nibelungenlied zu vergleichen, kaum einmal auf die Form der Texte achten, sondern stets auf inhaltliche Aspekte. Somit lässt sich gut ein Aha-Effekt herstellen, dass es ebenfalls wichtig sein kann, die formale Gestaltung eines literarischen Werkes zu berücksichtigen.

Ähnliche Motive

Am Ende der ersten aventiure – also quasi des ersten Kapitels – des Nibelungenliedes träumt die junge Kriemhild davon, dass zwei Adler ihren Falken töten (1, 13-19). Im Nibelungenlied gibt es viele Vorausdeutungen auf spätere Ereignisse, in diesem Fall die Tötung Siegfrieds, des Mannes von Kriemhild, durch Hagen und ihren Bruder Gunther. Als ein solches Vorzeichen auf den gewaltsamen Tod eines geliebten Mannes interpretiert auch Kriemhilds Mutter Ute den Traum, so dass Kriemhild beschließt, niemals eine Verbindung mit einem Mann einzugehen, was die Mutter weise »belächelt«. Diese Stelle ist also von großer Bedeutung für die weitere Handlung des Nibelungenliedes, und es liegt wiederum nahe anzunehmen, dass das ältere Falkenlied nicht nur die äußere Form, sondern auch das zentrale Motiv für diesen Passus geliefert hat. Ein Vergleich beider Textabschnitte ist für die Schüler als Einstieg in das Nibelungenlied geeignet: Gemeinsam ist ihnen – neben dem zentralen Falken-Motiv – die mutmaßlich weibliche Sprecherin und die Bedeutung von Liebe und Verlust. Sie unterscheiden sich in dem Maß, in dem die Strophen in eine Handlung eingebunden sind, in Traum und »Wirklichkeit« sowie der im Nibelungenlied prägenden Gewalt. Der Vergleich hilft also, wesentliche Merkmale des Nibelungenliedes früh in der Epoche herauszustellen.

Zutrauen zum Mittelhochdeutschen

Kein Mittelaltergermanist würde behaupten, das Nibelungenlied oder gar Wolfram von Eschenbachs Parzival seien in leicht verständlichem Mittelhochdeutsch verfasst – und niemand käme auf den Gedanken, für Studierende in den ersten Semestern eine Einführung ins Mittelhochdeutsche anhand dieser Texte zu gestalten – hierfür sind Werke Hartmann von Aues oder des Strickers ungleich besser geeignet. Somit wird von Zehntklässlern der Waldorfschulen mehr erwartet als von Germanistik-Studenten, wenn sie anhand der Strophen des Nibelungenliedes ein Verständnis oder gar eine Zuneigung zum Mittelhochdeutschen entwickeln sollen. Das Falkenlied ist hingegen, so meine Erfahrung, Oberstufenschülern unmittelbar und intuitiv verständlich; das gilt insbesondere, wenn der Lehrer den Text einmal vorspricht. Einige wenige Probleme mögen sich zwar beim Übersetzen stellen, insgesamt können die Schüler den Text allerdings meist »aus dem Stand« übersetzen und fassen damit früh ein Zutrauen zu einer fremden Vorform ihrer Muttersprache, das ihnen das Nibelungenlied zunächst nur bedingt bieten kann.

Erziehung als Lerninhalt

Es ist bekannt, dass das Nibelungenlied, Wolframs Parzival und Goethes Faust auch deswegen ihren festen Platz in den Jahresläufen des Waldorf-Curriculums gefunden haben, weil sie altersbedingte Anliegen der Schüler berühren, wie das Verlassen des Familienverbandes, die Suche nach der eigenen Bestimmung oder das Erkenntnisstreben. Im Parzival wie im Faust spielen dabei Lehre, Bildung und Erziehung eine wesentliche Rolle: Auf seinem (Irr-)Weg zu seiner Bestimmung leitet Parzival die innere Auseinandersetzung mit den Lehren seiner Mutter Herzeloyde und seiner Onkel Gurnemanz und Trevrizent.

Der frustrierte Universitätslehrer Faust hingegen, der – wie er sagt – seine Schüler jahrelang an der Nase herumgeführt hat, verzweifelt an seiner Erkenntnisfähigkeit wie auch an seinem bornierten Schüler und Famulus Wagner, dessen ignorantes »Zwar weiß ich viel, doch möcht ich alles wissen« (Faust I, V. 601) Faust beinahe mit in den Selbstmord treibt. Im Nibelungenlied wird hingegen weder erzogen noch gelernt, die Figuren entwickeln sich nicht und scheinen – obwohl im Handlungsverlauf Jahrzehnte vergehen – diesbezüglich wie festgefroren. So hat Kriemhilds Bruder Giselher zu Anfang des Epos ebenso den Beinamen »daz kint« wie am blutigen Ende der Begebenheit. Im Falkenlied hingegen ist der Aspekt der Erziehung in Form der Abrichtung in Opposition zum natürlichen Freiheitsstreben allgegenwärtig: in der Sprache, speziell den Personalpronomina, ebenso wie durch die kulturhistorische Einbettung der Falknerei oder im Motiv der Jagd, das nicht nur in der mittelalterlichen Literatur oft auf Liebesbeziehungen übertragen wird.

Am Falkenlied ließe sich also, quasi als »Mikrokosmos«, ein wichtiger Aspekt des Deutschunterrichts der Ober­stufe darstellen, für den das Nibelungenlied, so faszinierend der Text sonst ist, wenig Anschlussmöglichkeiten bietet.

Vieldeutigkeit und Identifikationsangebote

Die Deutungsmöglichkeiten des Falkenliedes erschöpfen sich beileibe nicht mit der Betrachtung des Erziehungs- und Freiheitsgesichtspunktes; sie lassen sich auch allgemein für den Deutschunterricht fruchtbar machen. Der letzte Vers macht vielmehr deutlich, dass das Gedicht jedenfalls als Liebesgedicht zu lesen ist – und damit Falke und Falkner gleichnishaft für zwei Liebende stehen, von denen einer aufgrund der zu beengenden Vorstellungen des Partners geflohen ist und nun dem noch immer
geliebten Menschen nachtrauert. Doch wer spricht hier eigentlich, und was genau bewegt ihn oder sie dabei? Dass die Dialektik von Anspruch und Freilassen in einer Liebesbeziehung für Zehntklässler Identifikationsmöglichkeiten bietet, muss nicht lange erörtert werden.

Freilich erkennen Schüler im Falkenlied noch einiges mehr: Warum fliegt der Falke nicht komplett fort, fragen manche, sondern lässt sich immer wieder sehen? Was soll das Motiv des zweimal erwähnten goldenen Leuchtens in der Sonne, wie mag es eigentlich dem Falken ergehen
zwischen der Lösung vom Bewährten, das ihn sicher versorgte, und der Notwendigkeit, nun allein für sich zu stehen? Viele Fragen, auf die erwachsene Interpreten womöglich nicht kommen und die das Falkenlied, etwa auch in der »Poetik-Epoche« der 10. Klasse, zu einem lohnenden Gegenstand machen – als Text, in dem sich in schlicht anmutender Sprache, extrem verdichtet und in prägnanter Bildhaftigkeit ein Füllhorn von Deutungsmöglichkeiten eröffnet, wie es in dieser Weise in erzählender Literatur kaum möglich ist.

Zum Autor: Dr. Matthias Kirchhoff ist Oberstufenlehrer für Deutsch und Geschichte an der Freien Waldorfschule Backnang und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Literaturwissenschaft, Abteilung für Germanistische Mediävistik an der Universität Stuttgart.