Nicht nur des Müllers Lust

Christel Dhom, Reinhard Schönherr-Dhom

Schon seit Jahrtausenden ist das Gehen und Wandern die natürlichste und gesündeste Art des Menschen, um von einem Ort an den anderen zu kommen. Die Völkerwanderungen, die Kreuzzüge, die Wandervogelbewegung zeigen: Menschen sind in der Lage, enorme Strecken zu bewältigen.

In einer Schule gibt es von jeher Wandertage. Sie dienen der ganzheitlichen Gesundheitsförderung und wirken sich günstig auf das soziale Verhalten aller Beteiligten aus. Sich etwas vorzunehmen, sich dann auf den Weg zu machen, um ans Ziel zu gelangen, auch wenn es zwischendurch etwas unbequem wird, sind wichtige pädagogische Motive.

Ist es noch weit bis zur Nordsee?

Eines unserer Kinder berichtete am Anfang der zweiten Klasse begeistert von den Ferien an der Nordsee. Daraufhin meinte ein anderes, ob wir da nicht mal alle »hingehen« könnten. Schnell lag die Betonung auf dem »Hingehen«. Diese Anregung nahm der Klassenlehrer wörtlich, ohne die Konsequenzen im Einzelnen zu bedenken. »Ja, da können wir zusammen hingehen!« So kam es, dass in der damaligen zweiten Klasse der Plan geschmiedet wurde, von Otterberg (Westpfalz) bis zur Nordsee zu wandern und spätestens am Ende der Klassenlehrerzeit dort anzukommen. Keiner der Beteiligten war sich damals im Klaren darüber, was ein solches Vorhaben bedeutete. Nachdem wegen schlechten Wetters der Wandertag der zweiten Klasse buchstäblich ins Wasser fiel, fand die erste Etappe zu Beginn des dritten Schuljahres statt. Schon nach wenigen Kilometern fragte eine Schülerin: »Ist es noch weit bis zur Nordsee?« – Viele Kinder können sich an diese erste Wanderung, die uns vorwiegend durch Waldgebiete führte, erinnern. Es gab in diesem Jahr viele Bucheckern. Teilweise waren die Wege übersät davon. Zunächst liefen die Kinder achtlos darüber hinweg. Dann zeigte ihnen ihr Lehrer, wie man sie öffnet und dass man die kleinen Nüsschen essen kann.

»Geiler als der Grand Canyon!«

Von da an gab es zahlreiche Wandertage. Es wurde jeweils der Weg dort fortgesetzt, wo die vorangegangene Etappe endete, und so reihte sich eine Etappe an die nächste. Anfangs waren es ja noch kurze Wegstrecken zurück nach Hause, sodass die Eltern die Fahrwege übernehmen konnten. Später stiegen wir auf den Bus und dann auf die Bahn für die Hin- und Rückreisen um. Die Kinder lernten so ihre unmittelbare Heimat kennen. Da wir mit dem Zug immer wieder an bereits zurückgelegten Strecken vorbeikamen, erinnerten die Schüler wiederholt besondere Merkmale der Landschaft, die Flüsse, die Berge, die Burgen und Orte, die wir schon zu Fuß erwandert hatten und jetzt mit dem Zug passierten. Unser Weg führte uns von Otterberg zum Donnersberg und durch das Alsenztal. Von Bad Münster ging es im Nahetal bis nach Bingen am Rhein. Dann wanderten wir auf der linken Rheinseite auf dem Rheinburgenweg, manchmal auch ein Stück rechtsrheinisch auf dem Rheinsteig bis nach Koblenz und Bonn und schließlich erreichten wir im Frühjahr 2013 Köln-Müngersdorf.

Teilweise meisterten wir abenteuerliche Streckenabschnitte im Mittelrheintal. Ein Schüler bemerkte zum Ölsbergsteig – einem sehr steilen und nicht ganz ungefährlichen alten Weinberg, an dem gezeigt wird, wie schwer es die Winzer in den Steilhängen hatten –, dass dieser »geiler« sei als der Grand Canyon. Ab der vierten Klasse planten wir Zwei- und Dreitagestouren mit Übernachtungen in Jugendherbergen. Neben den abwechslungsreichen Landschaften zu unterschiedlichen Jahreszeiten genossen wir unterwegs Besichtigungen wie die der einzigen Felseneremitage nördlich der Alpen bei Bretzenheim, Führungen auf der Marksburg und dem Schloss Stolzenfels.

Auch eine Schifffahrt auf dem Rhein gehörte dazu. Natürlich konnte die fünfte Klasse nicht an den Vulkanen der Eifel vorbeigehen, ohne den Lava-Dom in Mendig und den Laacher See zu besuchen, in denen wir die Aktivität des Vulkans beobachten konnten. Ein Besuchstag in Köln mit Dom, Schokoladenmuseum und Römisch-Germanischem Museum gesellte sich zu den Höhepunkten unseres Abenteuers.

Unterwegs mussten wir so manche Hürde nehmen. An einem der heißesten Tage im Sommer 2010 – es war 37 Grad heiß – reichten unsere Getränke nicht aus. Wir wanderten einen ganzen Tag nur durch Waldgebiet. Gegen Mittag hatten die ersten Kinder nichts mehr zu trinken und es gab keinen Handyempfang. Wir lösten das Problem, indem wir viertelstündliche kleine Pausen einlegten, die noch vorhandenen Getränke auf alle aufteilten und darauf achteten, dass jedes Kind etwas trank. Als wir am Gutenbacher Hof die ersten Häuser erreichten, schenkten uns die Bewohner zwei Kisten Wasser. Dankbar denken wir daran zurück. Außerdem waren zahlreiche kleinere Wunden zu versorgen; es war zu trösten, wenn das Essen in der Herberge nicht so schmeckte, wie zu Hause; Mut zu machen, wenn die Schuhe drückten oder nach Lösungen zu suchen, wenn uns der Zug vor der Nase wegfuhr.

Das erlebten wir in Bretzenheim. Nach einem langen Wandertag mussten wir die letzten beiden Kilometer mit den Rucksäcken rennen und dennoch fuhr uns der Zug vor der Nase weg. Welch eine Enttäuschung, ganz abgesehen davon, dass die nachfolgende Logistik zusammenbrach. So lernten wir aber, uns aufeinander zu verlassen, einander zu vertrauen und uns gegenseitig zu helfen.

Im Durchschnitt gingen wir 15 bis 20 Kilometer an einem Tag und legten bis jetzt, in der 6. Klasse, eine Wanderstrecke von rund 320 Kilometern zurück. Damit haben wir deutlich mehr als die Hälfte des Weges geschafft. Es liegen aber noch ungefähr 220 Kilometer vor uns, die wir in vier weiteren Etappen zurücklegen wollen. Dann wollen wir am Ijsselmeer anlangen, mit dem Segelschiff zur Insel Texel schippern und dort unseren Traum, zur Nordsee zu »gehen«, erfüllen. Unser Abenteuer dokumentieren wir in einer Portfoliomappe. Anfangs schrieben die Schüler vorgegebene Texte auf, die sie dann durch eigene Zeichnungen, gesammelte Blätter oder gepresste Blumen ergänzten. Hinzu kam das Gruppenfoto, das wir immer zu Beginn einer jeden Etappe machten. Jetzt, ab der sechsten Klasse schreiben die Kinder selbst ihre Erlebnisse auf, sammeln Eintrittskarten oder bereichern ihre Mappen mit Ansichtskarten, Fotos oder selbst gezeichneten Landkarten. All dies wäre ohne die wohlwollende und tatkräftige Unterstützung der Eltern nicht möglich. Es sind Eltern, die sich an der Planung der Routen beteiligen, die uns auf den Wanderungen begleiten, die das Übernachtungsgepäck transportieren, damit wir nur mit Tagesproviant wandern können, die Waffeln, Kuchen und Brot backen und verkaufen, um unsere Wanderkasse zu füllen.

Wir konnten erleben, wie ein solches Projekt eine Gemeinschaft von Schülern, Lehrern und Eltern zusammenschweißt, wie Kinder sich entwickeln und wachsen, wenn sie sich auf den Weg machen. Wir konnten erleben, dass Wandern nicht nur des Müllers Lust ist.

Zu den Autoren:

Christel Dhom ist Heilpädagogin und Förderlehrerin an der Freien Waldorfschule Westpfalz/Otterberg. Sie ist Dozentin in der Lehrer- und Erzieherfortbildung und Autorin zahlreicher Bücher.

Reinhard Schönherr-Dhom ist seit 1991 Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Westpfalz/Otterberg.