Per QR-Code zum »Verbrecher-Talk«

Ingo Leipner

»Halbnackte Männer erklimmen im dämmernden Licht fast schon spinnen­artig das große Gerüst (…). Die Stimmung ist angespannt, ja beinah verängstigt.« Diese Zeilen stammen aus einer Rezension von Ella über eine Performance im »Theater total«. Ella geht in die 9. Klasse der Düsseldorfer Rudolf Steiner Schule – sie war begeistert von der Aufführung: Ausdruckstanz und starke Mimik ließen keine Langeweile aufkommen. »Der Zuschauer wird immer wieder neu mit einem ›Wow‹-Effekt überrascht«, schreibt die Schülerin.

Ihre Rezension ging durch professionelle Hände: Dorothee Krings ist Theaterkritikerin, sie schreibt seit zwölf Jahren für die »Rheinische Post«. »Ich habe die Texte der Schüler so redigiert«, sagt die Kultur-Redakteurin, »als wenn sie ein freier Mitarbeiter geliefert hätte.« Druckreif war vieles noch nicht, aber mancher Texteinstieg so lebendig, dass er Krings überzeugte.

Krings Unterrichtsbesuch war Teil eines aufwändigen Projekts von Franz Glaw. Der Deutsch- und Mathematiklehrer an der Rudolf Steiner Schule Düsseldorf hatte sich mit seiner Klasse einen Text von Friedrich Schiller vorgenommen und diesen in einer Vielzahl von Textgattungen verarbeitet: Gerichtsaussage, Radiofeature, Ahnenforschung.

Startpunkt war eine klassische Lektüre im Deutschunterricht: »Der Verbrecher aus verlorener Ehre« von Friedrich Schiller. Warum gerade in der 9. Klasse? – »Es ist der richtige Stoff für Schüler in diesem Alter«, sagt Glaw, »weil es um Rebellion und die Überschreitung von Grenzen geht.« Die Zeit des Klassenlehrers ist zu Ende, die Rolle der »geliebten Autorität« ist nicht mehr gefragt – und der Aufbruch in die Welt der Erwachsenen beginnt. »In den Klassen entsteht eine völlig neue Atmosphäre und damit viel Raum für Neues. Aber auch Raum für ›Verirrungen‹, wie sie Schiller beschreibt«, so Glaw.

Die Schüler setzten sich mit dem Leben des Protagonisten Christian Wolf auseinander, der in Schillers kleinem Prosa-Werk zum Mörder wird. Als Wilderer ist er zuvor auf die schiefe Bahn geraten. Es geht dabei um den Blick hinter die Fassade, damit auch Christian Wolf als Mensch sichtbar wird – trotz seiner Untaten. Für Glaw ist dabei wichtig: »Die Schüler sollen in sich Quellen der Kreativität entdecken und nicht einfach nachahmen, was ihnen vorgegeben wird.«

Um das zu erreichen, gab es verschiedene Wege.

Eine Schülerin gestaltete eine fiktive Aussage vor Gericht. Bevor die Zeugin zu Wort kommt, gibt die Schülerin aus Sicht der Frau, die vor Gericht aussagen soll, die Atmosphäre im Saal wieder: »Die Blicke der Anwesenden waren verachtend, sie hatten sich ein Bild gemacht, sie sahen nur Raub und Mord. Keiner konnte den Menschen mehr sehen. Christian würde keine Chance haben, das begriff die Zeugin in diesem Moment.«

Zwei andere Schüler erfanden ein Interview im Radio: Ein Schiller-Experte ist mit seinem neuen Buch über den Dichter zu Gast. Ein Moderator befragt ihn, das Gespräch wird im »Studio« am Stück aufgezeichnet. Ein gewisser jugendlicher Jargon ist zu hören: »Christian Wolf steht auf ein Mädchen. Er hat eigentlich Geld, will aber mehr haben, um das Mädchen zu beeindrucken.« Das ist der Ausgangspunkt des dramatischen Geschehens: Wolf wirbt mit Geschenken um ein Mädchen – und erschießt später den Nebenbuhler Robert, bevor der ihn wegen Wilderei anzeigen kann.

Eine andere Schülerin schlüpfte in die Rolle einer Ahnenforscherin, die alles über ihren Urgroßvater Christian herausfinden will – und dabei familiäre Tabus bricht. Das inszenierte sie mit einer Mitschülerin als gesprochenen Dialog, der wie das Radio-Interview aufgenommen wurde.

Bei der Theaterkritik, zu der Krings für eine Doppelstunde in die Schule kam, ging es darum, attraktive Worte zu finden, um die Szenen des Stücks gut zu beschreiben. Wie sind dabei die bekannten sechs W-Fragen zu beantworten: Wer? Was? Wo? Wann? Wie? Warum? Auf diese Weise lernten ihre jungen Kollegen im Ansatz, was Profi-Standards für journalistisches Schreiben sind. »Manche Schüler waren so verliebt in ihre Szene, dass sie nicht zum eigentlichen Inhalt gekommen sind«, erzählt Krings, »auch die Rechtschreibung war oft nicht besonders gut.«

Die Kulturredakteurin besprach einige der redigierten Texte, ohne in eine Einzelkritik zu verfallen. Einfühlsamkeit war gefragt, weil in der 9. Klasse eine gewisse Nervosität zu spüren war – »Oh je, jetzt bin ich dran!« Daher strich Krings positive Beispiele heraus und klärte prinzipielle Fragen: »Kommt es in einer Kritik nur zu einem Geschmacksurteil, oder wird das Urteil begründet?«

Mit dieser Frage traf sie den Nagel auf den Kopf. Gerade ältere Schüler sind in diesem Lebensabschnitt gefordert, ihre Urteilskraft zu schärfen. »Dazu ist es wichtig, Jugendliche ins Theater zu bringen«, sagt die Kulturredakteurin, »wenn ich über etwas schreiben muss, bleibe ich wach!« Und der »Reflexions­apparat« komme in Schwung.

Bei diesen Schreibversuchen hatten die Schüler ein gutes Vorbild, nämlich Schiller selbst – mit seiner prägnanten, emotionalen und doch klaren Sprache: »Der Arm zitterte mir, da ich meiner Flinte die schreckliche Wahl erlaubte – meine Zähne schlugen zusammen wie im Fieberfrost, und der Odem sperrte sich erstickend in meiner Lunge.«

Ein Mikrofon kann Wunder wirken. Glaw hat die Erfahrung gemacht, dass Schüler vor dem Mikrofon aufblühen können, obwohl sie sonst kaum in der Lage sind, ihre Gedanken zu Papier zu bringen. Er erinnert sich an einen drastischen, im Grunde aber typischen Fall, den er bei einer Variante des Schiller-Projekts erlebte. »Ein Schüler hatte noch nie einen Aufsatz geschrieben, aber viel Aggressivität entwickelt«, berichtet Glaw. Bei den Tonaufnahmen verwandelte er sich nach und nach: »Die Worte sprudelten schließlich nur so heraus, plötzlich konnte der Junge ziemlich eloquent und elaboriert sprechen«. Ein anderes Medium als Papier und Stift – und schon springt ein Außenseiter mutig über seinen Schatten. Glaw erklärt sich das so: »Beim Schreiben machte der Schüler sehr viele Fehler; er sah schon immer die roten Striche des Lehrers.« Seine Skrupel über die richtige Rechtschreibung hätten ständig den Erzählfluss gehemmt oder unterbrochen. Beim gesprochenen Wort ließe sich diese Hürde viel leichter nehmen.

Glaw bearbeitet die Tonaufnahmen nicht. Es gibt fast keinen Schnitt, obwohl die heutige Digitaltechnik dies leicht möglich macht. Glaw: »Das heben wir uns für die Oberstufe auf; in der 9. Klasse verfolge ich ein anderes pädagogisches Ziel.« Die Methode dazu heißt »live on tape«, was bedeutet: Der lineare Ablauf sorgt für eine hohe Authentizität der Aufnahmen, es kommt zu keiner Segmentierung – und der Zusammenhang geht nicht verloren. Das erfordert eine hohe Geistesgegenwart der Schüler, die auf diese Weise lernen, konzentriert Inhalte auf den Punkt zu bringen. Dabei unterstützt sie ein Ablaufplan mit kurzen Notizen, um den roten Faden nicht zu verlieren. Das geschieht alles in Dialogen, die nicht abgelesen werden, sondern immer neu entstehen.

Ähnlich können Tonaufnahmen in der Geschichts- oder Physik-Epoche zum Einsatz kommen, zum Beispiel bei Experimenten zur Akustik: Schüler gehen auf den Schulhof; in 300 Meter Entfernung lässt eine Gruppe ein Backblech fallen. Zuerst ist der Vorgang mit den Augen zu sehen, bevor der Schall das Ohr erreicht. Diese unterschiedliche Geschwindigkeit lässt sich leicht im Heft dokumentieren, indem die Schüler Versuchsaufbau und Durchführung

notieren. »Als Radiohörer sehe ich aber nichts von diesem Experiment«, erklärt Glaw, »es ist eine hohe sprachliche Übung nötig, um Tonaufnahmen als Medium richtig zu nutzen.« Das motiviere Schüler erheblich, sich mit dem Experiment eingehender zu beschäftigen.

Medien als eigenständiges Produktionsinstrument

Wie beim Schiller-Projekt wird für Glaw an diesem Beispiel deutlich: »Wir brauchen kein eigenes Fach Medienkunde. Viel mehr können unterschiedliche Medien den Unterricht unterstützen und ergänzen, den wir sowieso erteilen.« Entscheidend sei es, Medien auf keinen Fall rein rezeptiv einzusetzen, sondern sie zur eigenständigen Produktion zu nutzen, um die Urteilskraft zu stärken. »Wer früher einfach die Vorhänge vorzog und einen vielleicht wertvollen Film zeigte«, so Glaw, »förderte lediglich das passive Wegdämmern der Schüler.« Die heutige Digitaltechnik sei preiswert und frei verfügbar – sie lasse sich vielfältig in der Schule nutzen. »Aber bitte erst ab der 7. Klasse«, warnt Glaw. Denn in den Klassen 1 bis 6 muss die Auseinandersetzung mit der realen Welt Priorität genießen – und erst recht im Kindergarten, der digitalfrei zu bleiben hat. In der Oberstufe sieht die Welt dann anders aus: Auf einer Veranstaltung wird gefilmt, und das Material bearbeiten zwei Gruppen. Die einen Schüler schneiden und texten ein positives Video, die anderen gestalten einen kritischen Beitrag. So funktioniert eine aktive, moderne Medienpädagogik, die Schülern die Manipulierbarkeit von Bildern vor Augen führt.

Wie passt aber der Besuch bei »Theater total« zu Schillers Werk? Sehr gut, meint Glaw. Denn eine inhaltliche Übereinstimmung sei nicht so wichtig gewesen: »Es kommt auf den Prozess an, der durch direkte Begegnungen entsteht«. So hatten die Schüler die Gelegenheit, auch Interviews mit jugendlichen Schauspielern zu führen. Und Krings sagt: »Es ist toll, Schüler an echte Orte zu bringen.« Das geschah auch am Amtsgericht, wo Glaws Klasse mehrere Verhandlungen erlebte. In den Pausen konnten die Schüler sogar mit der Richterin sprechen. Da war die Brücke gut zu schlagen … und weitere »Radio-Beiträge« über reale Kriminalfälle wurden leicht produziert.

Ein letztes Detail: Es gab auch »klingende Epochenhefte«, wie Glaw sie nennt. Da ist in lila Schönschrift die Headline zu lesen: »Verbrecher-Talk« – und darunter finden sich drei QR-Codes, produziert von Klassenkameraden. Mit ihrer Hilfe lassen sich die Verbrecher-Talks 1-3 mit dem Smart­phone herunterladen.

Zum Autor: Ingo Leipner ist Journalist, Buchautor und Referent zur digitalen Transformation der Gesellschaft. Er war an der Gründung des »Bündnis für humane Bildung« beteiligt, das den digitalkritischen Diskurs in der Bildungspolitik vorantreiben will und mit dem anthroposophischen Netzwerk ELIANT kooperiert. Beide Organisationen haben im März europaweit eine Petition gestartet, um die Wahlmöglichkeit für bildschirmfreie Kindergärten und Grundschulen zu sichern.

www.aufwach-s-en.de