Profit oder Gemeinwohl?

Christoph Köhler

Im letzten Schuljahr fragten mich einige Zwölftklässler, ob ich ihnen nicht eine Wirtschaftsepoche geben könne. Die Oberstufenkonferenz gab dem Antrag der Klasse statt und genehmigte eine dreiwöchige Epoche »Wirtschaft anders denken« als Modellprojekt, auch um Erfahrung zu sammeln, wie sich eine Epoche mit wirtschaftlichem Inhalt in das Curriculum einer 12. Klasse einfügen würde.

Wer sich die großen Probleme unserer heutigen Zeit vor Augen führt, kommt nicht umhin einzugestehen, dass diese nicht nur durch die Art unseres Wirtschaftens verursacht sind, sondern auch niemals innerhalb des Systems gelöst werden können. Denn unsere Wirtschaft baut auf Wachstum auf. Wachsen kann die Wirtschaft aber nur auf Kosten der die Arbeit leistenden Menschen, der Umwelt, der endlichen Natur und der Gemeingüter. Vor diesem Hintergrund ist es geradezu unverantwortlich, eine Wirtschaftsepoche zu konzipieren, die die Dogmen unseres heutigen Umgangs mit Mitmensch und Umwelt wiederholt und die vermeintliche Logik und Alternativlosigkeit der Volkswirtschaftslehre beim Heranwachsenden verankert.

Mit diesem systemkritischen Ansatz soll den Schülern vermittelt werden, dass schon bei den Grundbausteinen der Volkswirtschaftslehre Aussagen getroffen werden, die nur schwach begründet und dadurch angreifbar sind. Die Epoche soll sich nicht auf die Kritik am bestehenden System beschränken. Der Fokus liegt auf der Darstellung alternativer Denkansätze, die an den Kritikpunkten ansetzen und ein anderes Ziel des Wirtschaftens und gesellschaftlichen Zusammenlebens formulieren. Dabei geht es nicht nur darum, Theorien zu vermitteln, sondern auch um die Vorstellung konkreter, erfolgreicher Projekte. Die Schüler sollen gangbare Alternativen diskutieren und so aus der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Lethargie herausgerissen werden. Im günstigsten Falle erkennt jeder seinen Beitrag und seine Handlungsmöglichkeiten in dem System und nimmt die Herausforderung an, die Zukunft unserer Gesellschaft im positiven Sinne mitzugestalten.

Das Menschenbild des Kapitalismus und der solidarischen Ökonomie

Die Epoche habe ich mit der amerikanischen Versteigerung einer ganz gewöhnlichen Ein-Euro-Münze begonnen. Das Prinzip der amerikanischen Versteigerung: Jeder Teilnehmer muss mehr bieten als der Vorgänger und den Bieterbetrag sofort an mich, den Verkäufer, bezahlen. Der zuletzt Bietende erhält den Zuschlag. Ein Spieler hätte mit einem Einsatz von 1 Cent den Euro ersteigern können, wenn nicht der nächste Schüler mehr geboten hätte. Bei der real durchgeführten Versteigerung in der Klasse wurden die Beträge von den Schülern sukzessive nach oben getrieben, bis der Letztbietende den Euro für einen Euro ersteigerte. Ich als Versteigerer »erwirtschaftete« einen Betrag von insgesamt 4,82 Euro! Mindestens die Hälfte der Schüler hatte sich aktiv an der Versteigerung beteiligt.

Wie konnte es dazu kommen? Hatte Adam Smith Recht, der das Profitstreben des Einzelnen zum zentralen Motiv menschlichen Handelns erklärte? Auf diesem Menschenbild fußen alle Theorien der heutigen Wirtschaftslehre. Oder waren es doch die Spielregeln, die Rahmenbedingungen, die das Verhalten der Mitwirkenden bestimmten?

Was ist mit den anderen Werten, die sich mit dem Egoismus jedes Einzelnen nicht vertragen? Die Schüler erkannten, dass Gaben wie die Fähigkeit zur Solidarität, zur Liebe, zum Teilen, zur spirituellen Sinnfindung und zum sinnvollen Verzicht in der heutigen Wirtschaft nicht zum Tragen kommen. Beide Verhaltensweisen sind im Menschen aber veranlagt und die überwiegende Zahl der Schüler ist davon überzeugt, dass die Rahmenbedingungen darüber entscheiden, welche Seite des Menschen in Erscheinung tritt. Eine ganzheitliche Sichtweise auf den Menschen, der all seine Veranlagungen berücksichtigt und zum Ausgleich bringen soll, ist die der solidarischen Ökonomie.

Wie lässt sich eine Wirtschaft denken, die auf dem umfassenderen Menschenbild der solidarischen Ökonomie statt dem des Kapitalismus aufbaut? Als ein erstes bereits in der Erprobungsphase befindliche Modell stellte ich die Gemeinwohlökonomie nach Christian Felber vor. Zentrales Element dieses Denkmodells ist die Gemeinwohlbilanz. Sie soll die gewöhnliche Finanzbilanz ablösen oder zumindest ergänzen. In ihr wird die Gemeinwohlorientierung in den Bereichen Menschenwürde, Solidarität, Ökologie & Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und demokratische Mitbestimmung & Transparenz in Bezug auf alle Kontaktgruppen, nämlich Lieferanten, Geldgeber, Mitarbeiter und Eigentümer, Kunden und Mitunternehmen und dem gesellschaftlichen Umfeld beurteilt und bepunktet. Eine positive Gemeinwohlbilanz soll Voraussetzung werden für steuerliche Begünstigungen, Fördergelder, Subventionen, Kredite und Aufträge vom Staat. Dadurch soll gemeinwohlorientiertes wirtschaftliches Handeln gegenüber dem profitorientierten Verhalten belohnt werden.

Die Unendlichkeit menschlicher Bedürfnisse und die Postwachstumsökonomie

Wirtschaftliches Handeln ist deshalb erforderlich, weil die unendlichen Bedürfnisse des Einzelnen mit der Knappheit der Ressourcen in Einklang gebracht werden müssen. Diese Aussage, die jedem Volkswirtschaftslehrbuch für Schulen kaum einer Erläuterung wert ist, stellte für mich eines der zentralen Themen für die Epoche dar.

Sind die Bedürfnisse des Menschen tatsächlich unendlich? Bei der Begründung stützen sich die Volkswirte gerne auf die Maslowsche Bedürfnispyramide. Für jedes gestillte Bedürfnis taucht ein neues Bedürfnis auf, das der Mensch mit seinen begrenzten Mitteln zu befriedigen sucht. Doch die Grenze zwischen materiellen und immateriellen Bedürfnissen ist unscharf. Sicher: Die Bedürfnisse sind unendlich. Die Sehnsucht nach Anerkennung, nach Frieden, nach Freiheit, nach Liebe, nach Selbstverwirklichung ist kaum zu stillen. Aber übersehen wird, dass die sozialen Bedürfnisse, Individualbedürfnisse und Bedürfnisse der Ich-Findung und Selbstverwirklichung stark immateriellen Charakter haben. Durch Werbung wird uns suggeriert, wir könnten unsere immateriellen Bedürfnisse durch immer mehr materielle Güter befriedigen. Und dies gelingt uns natürlich nicht. Sinnvoller wäre, sich mit dem eigentlichen Bedürfnis auseinanderzusetzen, anstatt sich ein Leben lang unter Konsumdrogen zu setzen.

So stellte ich zur Diskussion, ob die materiellen Bedürfnisse – entgegen der Sichtweise der Ökonomen – nicht endlich sind, wenn sie nicht von außen getriggert werden.

Eine Wirtschaft ohne den ständigen, von der Bedürfnislehre geforderten Wachstumszwang stellt die Postwachstumsökonomie nach Nico Paech dar. Sparsamkeit im Rohstoffverbrauch, Selbstversorgung und Regionalität können als Gewinn von Lebensqualität erlebt werden, wenn von den gesellschaftlich tradierten Vorstellungen, von dem Bedürfnis nach materiellem Mehr Abschied genommen wird.

Die Illusion der Knappheit und wie sie überwunden werden kann

Das Kinderspiel »Reise nach Jerusalem« bot eine gute rhythmische Unterbrechung in dieser vorwiegend kognitiv geprägten Epoche. Demonstrativ türmte ich als Spielleiter die ausrangierten Stühle zu einem hohen Turm, vor dem ich als Sieger des Spieles posierte. Gab es in diesem Spiel eine Knappheit an Ressourcen? Es bedurfte nur der kleinen Impulsfrage, was dieses Spiel mit der Realität zu tun habe, und es sprudelte aus den Schülern an tiefgehenden Gedanken nur so heraus. Beispiele von Lebensmittelvernichtung zur Preisstabilisierung oder Wasserknappheit in Afrika aufgrund des Geschäftsgebarens der Firma Nestlé waren nur zwei der vielseitig vorgebrachten Aspekte zum Thema Knappheit. Es ist ja ein weiteres Dogma der Wirtschaftslehre, dass mit den nicht ausreichend vorhandenen Gütern gewirtschaftet werden muss. In Wahrheit wird in vielen Bereichen Knappheit künstlich erzeugt: durch Spekulation, durch Hortung, durch die Eigentumsordnung, durch Maßlosigkeit, durch nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Verwendung der Rohstoffe, durch Umweltzerstörung, die ihrerseits Folgen der kapitalistischen Wirtschaftsweise sind.

Nicht die Güter sind knapp, sondern das Geld, das zu ihrem Erwerb benötigt wird. Es ist genug da für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier, sagte schon Mahatma Ghandi.

An allen Ecken und Enden erkennt man bereits Bewegungen, die sich dieser künstlichen Verknappung zu entziehen suchen. Die Open Source Bewegung (Freie Software, Wikipedia, Open Technology) ist ein Musterbeispiel dafür, wie mit reichlich vorhandenen Ressourcen zum Nutzen aller umgegangen werden kann. Die neu entstehende Share Economy ist ein Ansatz, bei dem durch Teilen von Gütern die vermeintliche Verknappung durchbrochen wird, auch wenn die Schüler darauf hinzuweisen sind, dass durch die Kommerzialisierung dieser im Grunde positive Gedanke in sein Gegenteil verkehrt wird. Der noch weitergehende Gedanke einer Schenkökonomie zur vollständigen Aufhebung der Verknappung erscheint den Schülern jedoch zu realitätsfern und vor ihrem eigenen Erfahrungshintergrund dieser materiell geprägten Welt in keinster Weise nachvollziehbar oder gar lebbar.

Geiz ist geil und andere Formen des ökonomischen Prinzips

Wenn man die volkswirtschaftliche Zielsetzung, möglichst viele der unendlichen Bedürfnisse mit den knappen Ressourcen zu befriedigen, akzeptiert, ist die nächste Forderung nur logisch. Das ökonomische Prinzip ist es, mit möglichst geringem Einsatz an Mitteln möglichst viel zu erreichen. Einzig die Effizienz der Bedürfnisbefriedigung spielt hier eine Rolle – nicht die Sinnerfüllung bei der Arbeit. Welche Rolle diese Fixierung auf die Bedürfnisse des Konsumenten spielt, habe ich versucht, anhand eines kleinen Planspiels zu verdeutlichen: Ich habe die Schüler jeweils fünf Minuten lang Handys zeichnen lassen, einmal mit dem Auftrag, diese möglichst schön zu fertigen, das andere mal, möglichst viele zu fertigen. Das ökonomische Prinzip führt zu Effizienz, Kostensenkung, unter Umständen auch sparsamem Umgang mit Energie und Ressourcen, aber eben auch zu Rationalisierung, Lohndumping, Umweltzerstörung oder »Geiz ist geil«. Es zwingt geradezu, Kosten auf Andere abzuwälzen. Das ökonomische Prinzip ist mit einem konsequent ökologischen Verhalten auch kaum zu vereinen.

Als Lösungsansatz stellte ich die Idee vor, externe Kosten zu internalisieren, wie dies bereits zum Beispiel bei Emissionszertifikaten ansatzweise umgesetzt wird. Doch sollte man sich und den Schülern Klarheit darüber verschaffen, dass man den bisher eingeschlagenen Weg, Wirtschaft anders zu denken, dabei bereits verlassen hat und versucht, Probleme des ökonomischen Prinzips systemkonform zu lösen. Das ist ja auch verständlich.

Das ökonomische Prinzip ergibt sich ja geradezu zwangsläufig aus den Grundaussagen zu Bedürfnissen und Knappheit. Wirtschaft kann nur anders gedacht werden, wenn man nicht nur die Symptome, wie die Auswüchse des ökonomischen Prinzips kritisiert, sondern eben die Zielsetzung hinterfragt.

Globalisierung contra Fair Trade und Regionalisierung

Das Gleiche gilt für die Lösungsvorschläge, die im Zusammenhang mit der Globalisierung diskutiert wurden. Die Globalisierung wurde als ein Aspekt extremer Arbeitsteilung behandelt. Die faszinierenden Seiten von weltweiter Arbeitsteilung habe ich durch Vorlesen des Essays von Leonard E. Read: »I, Pencil« beleuchtet, der aufzeigt, wie viele Menschen weltweit, ohne zentrale Steuerung, zusammenwirken müssen, um die Produktion eines so einfachen Gegenstandes wie eines Bleistifts zu ermöglichen. Die negativen Seiten der weltweiten Arbeitsteilung habe ich mit einem Kurzvideo über den Werdegang einer Jeans beleuchtet. Durch ein Planspiel zur weltweiten Produktion von Handys habe ich dann die Schüler die Probleme einer weltweiten Arbeitsteilung unmittelbar erleben lassen. Die Diskussionen zu den vielen negativen Folgen der weltweiten Globalisierung drohten aus dem Ruder zu laufen und wurden von mir deutlich kanalisiert und schließlich beschränkt. Mir war es ja auch ein Anliegen, die Schüler nicht in Hoffnungslosigkeit versinken zu lassen, sondern Alternativen zu zeigen. Als solche bot ich den Schülern Gruppenarbeiten und Kurzvideos zu den Themen Fair Trade und Regionalisierung an. Mit einem fairen Handel soll den eigentlichen Produzenten unserer Alltagsgüter ein Einkommen gesichert werden, das ihnen ein Überleben sichert. Dies soll durch ein Ausschalten von Zwischenhandel und ausbeuterischen Unternehmen, aber eben auch durch ein Bezahlen von gerechteren Preisen ermöglicht werden.

Leider blieb in der Epoche zu wenig Zeit, zu diskutieren, dass ein fairer Handel im großen Stile nur durch eine Reduktion unserer überzogenen Konsumansprüche finanzierbar ist. Als ein zentrales Element der Regionalisierung wurde von mir die Verwendung von Komplementärwährungen thematisiert, da durch sie das Geld in der Region gehalten wird und durch das Prinzip Umlaufsicherung statt Zinseszins der Wachstumszwang durchbrochen wird. Die Tatsache, dass die deutschlandweit bekannteste und erfolgreichste Regionalwährung – der Chiemgauer – an unserer Schule entstanden ist und wie der Chiemgauer funktioniert, war nicht allen Schülern der Klasse bekannt.

Nicht prüfungsrelevant, aber essenziell

Die Wirtschaftsepoche konnte Schüler mit verschiedenen Fähigkeiten und unterschiedlichem Lernverhalten ansprechen. Das Thema Wirtschaft liegt ihnen nahe und auch kognitiv nicht so ansprechbare Schüler können aus einer Wirtschaftsepoche etwas mitnehmen. Jeder Schüler, der ein soziales oder gesellschaftliches Anliegen in sich verspürt, und das sind in der Waldorfschule nicht wenige, kommt eigentlich an dem Thema Wirtschaft nicht vorbei.

Nur für eine Gruppe von Schülern hatte diese Epoche nichts zu bieten. Nämlich denjenigen, die eine Epoche nur danach beurteilen, ob ihre Inhalte für das Bestehen des Abiturs zu gebrauchen sind. Da Wirtschaft mit unserem Profil nicht prüfungsrelevant ist, brachten die Epocheninhalte die Schüler diesbezüglich nicht weiter. Aber ich verstehe uns auch nicht als Ersatzgymnasium, sondern als Waldorfschule. Die 12. Klasse nimmt in der Entwicklung des Jugendlichen eine zentrale Rolle ein. Mit ihr wird der Heranwachsende in die Erwachsenenwelt entlassen. Und dabei sollen Inhalte vermittelt werden, die es dem Jugendlichen erleichtern, seinen Platz in der Welt, in seinem sozialen Umfeld, in der Gesellschaft zu finden.

Zum Autor: Christoph Köhler ist Physiker und unterrichtet Mathematik und Physik in der Oberstufe an der FWS Chiemgau. Über Kritik, Anregungen und Diskussionen würde sich der Autor sehr freuen. Konkrete Unterrichtsmaterialien können gerne versandt werden.

Kontakt: c.koehler@posteo.de