Revolution live

Matthias Zeylmans

1789: Graf Mirabeau baut sich in voller Größe vor dem Zeremonienmeister des französischen Königs auf, gestikuliert mit seinen prankenartigen Händen in der Luft herum und schleudert ihm seine berühmte Donnerkeilrede entgegen.

Die Französische Revolution nimmt ihren blutigen Verlauf …

1849: Robert Blum, ein warmherziger, friedlicher Mann mit rundlichem Gesicht und breitem Bart schreibt vor seiner Hinrichtung einen rührenden Abschiedsbrief an seine Frau. Der Paulskirchen-Abgeordnete und Protagonist der 1848er Revolution kämpfte erfolglos gegen deren Niederschlagung …

1968: Rudi Dutschke, der »Bürgerschreck Berlins« mit markantem Gesicht und wilder, dunkelbrauner Haarmähne wird mitten auf dem Kurfürstendamm von einem jungen Arbeiter angeschossen. Dutschke ist Anführer der rebellischen Studentenschaft und will die Arbeiter aus ihrer Unterdrückung befreien …

Aus dem Unterrichtsstoff entsteht ein Bühnenprojekt

Solche bewegenden biografischen Momente ergreifen mich als Geschichtslehrer in der Vorbereitung und im Unterricht immer wieder aufs Neue. Die Charakterzüge und Ideale der Revolutionäre, ihre Größe und ihre menschlichen Schwächen haben – inspiriert durch Albert Schmelzers Buch »Wer Revolution machen will …« – einen zentralen Platz in meinem Geschichtsunterricht der 9. Klasse.

Parallel zu Studium und Lehrerberuf stehe ich als Sänger und Musiker seit 20 Jahren auf der Bühne, verfasse eigene Lieder und führe als Musiklehrer Songwriting-Projekte mit meinen Schülern durch. So reifte in mir der Wunsch, beide Leidenschaften zu verbinden: Mit reduziertem Deputat konnte ich mich 2013 endlich intensiv den Revolutionär-Biografien widmen, ein Jahr lang intensiv recherchieren, schreiben und komponieren. Da ich eine Liebe für Worldmusic habe, verwende ich in meinen Liedern musikalische Stilmittel der jeweiligen Landeskultur. Auch baue ich in die Liedtexte meist originalsprachliche Zitate der Revolutionäre ein, die ihren Impuls oder ihr Schicksal in verdichteter Form zum Ausdruck bringen. Meine Frau – früher tätig als Malerin – greift, durch mein Projekt inspiriert, wieder zum Pinsel und lässt zwölf expressive Charakterporträts entstehen, die, später bei der Aufführung mit Beamer projiziert, als Bühnenbild und Bezugspunkt dienen. So entsteht schließlich das Bildungsprojekt »Revolution live«: 200 Jahre Revolutionsgeschichte in zehn Stationen, von 1789-1989. In kurzen, lebendig erzählten Reportagen, ergänzt durch PowerPoint-Folien, werden die Zuhörer in eine historische Situation hineinversetzt und lernen einen ihrer Hauptprotagonisten kennen. In dem jeweils nachfolgenden Lied berichtet diese Persönlichkeit, wie in einem inneren Monolog, von ihren Motiven, Erfolgen und Misserfolgen. Die Revolutionäre erscheinen dabei als handelnde und empfindende Individuen in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität und ihrem persönlichen Schicksal. Dadurch werden sie nicht zu Helden stilisiert, vielmehr wird ein differenziertes Bild der jeweiligen Persönlichkeit gezeichnet.

200 Jahre Revolutionsgeschichte

Und was lehrt uns der Blick auf 200 Jahre Revolutionsgeschichte? Betrachtet man – wie man es im Geschichtsunterricht der 12. Klasse tun kann – quasi aus der Vogel- perspektive die Zusammenhänge und Entwicklungstendenzen der zehn ausgewählten Revolutionen, so fällt einem zunächst die Wirkungsmacht der sozialistischen Revolutionstheorie auf: »Proletarier aller Länder vereinigt Euch …« schrieben Marx und Engels 1848. Lenin versuchte 1917 in der russischen Revolution erstmals den Kommunismus zu verwirklichen; Rosa Luxemburgs Ideen eines menschlichen Sozialismus blieben dahingegen Utopie. Che Guevara und andere Revolutionsführer der kolonialen Befreiungskriege ab 1950 hatten meistens Marx im Handgepäck. Rudi Dutschke und andere 1968er Rebellen erklärten sich solidarisch mit sozialistischen Bewegungen und skandierten »Ho-ho-ho-chiminh« auf ihren Demonstrationen. Sie übersahen aber, dass deutsche Arbeiter rote Fahnen verbrannten und gar nicht von ihnen befreit werden wollten. Auch führten die weltweiten Massenmorde, die im Namen des Kommunismus begangen wurden, nicht zu einer kritischen Distanzierung gegenüber der sozialistischen Idee.

Der Impuls des gewaltfreien Widerstandes

Zukunftsweisender fällt dann der Blick auf den Impuls des gewaltfreien Widerstandes aus, der vor allem durch Gandhi, Martin Luther King und Bürgerrechtler der osteuropäischen Revolutionen ab 1989 eine beachtliche Wirk- samkeit entfaltet. Südafrika, 1894: Mohandas Karamchand Gandhi erfährt als indischer Rechtsanwalt die Brutalität des weißen Rassismus.

Er entwickelt auf der Grundlage hinduistischer Ethik und christlicher Nächstenliebe eine Form des revolutionären Kampfes, die auf der Haltung »Satyagraha« beruht; das bedeutet »Stärke, die aus Wahrheit, Liebe und Gewaltlosigkeit kommt« (Seufert). Die verblüffende Wirkung, die diese Haltung im indischen Unabhängigkeitskampf erzielt, wird in der Demonstration vor den Marsana-Salzbergwerken am 21. Mai 1930 sichtbar: Tagelang marschieren mehrere tausend indische Demonstranten auf die Polizeisperre zu und lassen sich ohne jegliche Gegenwehr brutal niederschlagen. Da dieses unerträgliche Schauspiel von den Medien in alle Welt übertragen wird, steht England plötzlich als brutale Unterdrückernation da und sieht sich genötigt, mit Gandhi zu verhandeln.

Alabama, USA, 1955: Als die schwarze Näherin Rosa Parks sich in der Stadt Montgomery eines Tages der alltäglichen Rassendiskriminierung widersetzt, organisiert Martin Luther King, der 26 Jahre alte Baptisten-Pfarrer, einen einjährigen Boykott der öffentlichen Verkehrsmittel durch die 42.000 schwarzen Stadtbewohner.

Der dadurch entstehenden Bürgerbewegung gelingt es nach neun Jahren des gewaltfreien Kampfes, die rechtliche Aufhebung der Rassentrennung zu erreichen.

Leipzig, DDR, 9.Oktober 1989, der »Tag der Entscheidung«: In der illegalen Kirchendruckerei haben der Pfarrer Christoph Wonneberger und seine Bürgerrechtsgruppe fieberhaft die ganze Nacht an der Vervielfältigung eines Flugblattes gearbeitet, das zum gewaltfreien Protest gegen das SED-Regime aufruft und die Losung für die große Entscheidungs-Demonstration am kommenden Tag vorgibt: »Keine Gewalt« rufen 70.000 mutige DDR-Bürger, als sie dicht gedrängt durch die Innenstadt marschieren. Dank der günstigen politischen Umstände gelingt der Umsturz der DDR-Parteiendiktatur tatsächlich auf friedliche Art und Weise.

Christoph Wonneberger, ein kleiner, drahtiger Mann mit blitzenden Augen hinter großen Brillengläsern, inspiriert von Gandhi und Martin Luther King, hatte bereits 1982 die montäglichen Friedensgebete initiiert und sich durch seine mutigen Aktionen und Predigten in der Leipziger Nikolaikirche zum Mentor der DDR-Bürgerrechtsbewegung entwickelt. Journalisten verglichen seine Tätigkeit mit einem »Holzkeil, der in den Felsen der Diktatur getrieben wird«. Kurz vor dem Berliner Mauerfall erleidet Wonneberger einen Gehirninfarkt, verliert seine Sprache und gerät in der medialen Öffentlichkeit zunächst völlig in Vergessenheit. Heute ist er ein leidenschaftlicher Friedensaktivist im Ruhe­stand.

Ein Projekt kommt ins Leben

Es gelingt mir, Christoph Wonneberger als Ehrengast für die erste Aufführung von »Revolution live« im November 2014 in die Dietzenbacher Waldorfschule zu holen. Anlässlich des Mauerfall-Jubiläums erzählt er den Oberstufenschülern von der damaligen Oppositionsbewegung in Leipzig. Sie lernen einen bescheidenen Menschen kennen, der in seinem Leben großen Mut, Erfindergeist und Durchhaltevermögen bewiesen hat und auch heute noch manchmal um die richtigen Worte ringen muss.

Seit Herbst 2014 bin ich an verschiedenen Schulen und Kleinkunstbühnen mit »Revolution live« zu Gast gewesen und habe Teile des Projekts in meinen Unterricht eingebaut. Wenn ich mit meinen Schülern im rhythmischen Teil der Geschichtsepoche die Revolutionslieder singe, werden die behandelten Biografien in ihrer emotionalen Dimension noch stärker erfahrbar. Die Schüler können dann im Unterrichtsgespräch die Licht- und Schattenseiten der Persönlichkeiten noch klarer erkennen und formulieren.

Auch in den Aufführungen an anderen Schulen wird durch die Blicke, Reaktionen und Rückmeldungen deutlich, dass die Zuhörer die Revolutionäre gewissermaßen ein Stück weit von innen heraus kennenlernen können. So werden beispielsweise die große Kraft und der eiserne Wille von Lenin durch die starke Rhythmik und die gesangliche Intensität körperlich spürbar. Aber auch Leid, Verzweiflung und Gewalt, welche durch seine engstirnige Willenskraft entstanden, können in den Dissonanzen der Melodie und Harmonie miterlebt werden.

So kann die erhabene Ruhe und die Wirksamkeit der bedingungslosen Liebe Gandhis durch das Mitsingen des Refrains in der Gemeinschaft zum Schwingen gebracht werden: »Satyagraha ist die Kraft der Gewaltlosigkeit, Satyagraha ist die Kraft, die das Unrecht bezwingt.«

So kann auch die Vielschichtigkeit zum Beispiel eines Che Guevara in dem gemalten Charakterportrait entdeckt und bewusst gemacht werden.

Anhand der Liedtexte und Bilder, die auf Wunsch zur Verfügung gestellt werden, können die historischen Inhalte im jeweiligen Geschichtsunterricht dann auch in ihrer Komplexität besprochen und beurteilt werden.

Auf diese Weise lässt sich das Ziel der Waldorfpädagogik, Bildung ganzheitlich und auf allen Ebenen zu vermitteln, besonders gut umsetzen. Die Jugendlichen können sich in der Identifikation mit den Revolutionären für soziale Ideale begeistern, die Auswirkungen ihrer Taten im Positiven und Negativen miterleben und dadurch ihren eigenen Impulsen auf die Spur kommen.

Auch bekommen sie einen Überblick über die vielfältige Geschichte der Revolutionen und merken, dass die schwierigen Herausforderungen unserer Zeit angepackt, aber ohne Gewalt gelöst werden müssen.

Zum Autor: Matthias Zeylmans (van Emmichoven) ist seit 2003 Lehrer für Musik und Geschichte an der Rudolf-Steiner-Schule Dietzenbach. Er hat das WAGA-Projekt 2009 initiiert und begleitet es seither. Wer Interesse hat, »Revolution live« an seine Schule zu holen, findet hier Infos: Link: www.revolutionlive.de (demnächst online) oder wende sich per E-Mail an: zeylmans@arcor.de

Literatur: Albert Schmelzer: »Wer Revolutionen machen will … « – Zum Geschichtsunterricht der 9. Klasse an Waldorfschulen, Stuttgart 2000 | Karl Rolf Seufert: Aufbruch am heiligen Fluss, Bindlach 1990 | Focus Magazin, Nr.41, 2009, Der Vergessene