Schlecht gebrüllt Löwe

Bernd Kettel

Löwe und Maus

Der Löwe brüllte so laut, dass die Erde erzitterte. Er war wütend, denn er hatte sich in einem Netz verfangen und konnte sich nicht daraus befreien. Die Tiere wichen ehrfurchtsvoll und ängstlich zur Seite, so schrecklich war sein Gebrüll.

Als er Luft holte, um zu einem neuen Brüller anzusetzen, hörte er plötzlich ein leises Kichern und ein feines Stimmchen rief: »He, du Großer, wenn du so laut schreist, dann hört dich der Jäger und weiß, dass du gefangen bist.« Der Löwe blickte sich überrascht um. Schließlich entdeckte er ganz nah bei seinen Tatzen ein kleines, graues Mäuschen. Das hatte sich auf seine Hinterläufe erhoben und blickte ihn aus klugen Äuglein freundlich an.

Der Löwe brüllte erneut so laut, dass es dem Mäuslein die Ohren nach hinten wehte. »Ich fresse dich!« schrie er. »Du kannst es ja mal versuchen«, antwortete das Mäuslein, »aber ich glaube nicht, dass du es in deiner Lage schaffst«. Schließlich war der Löwe vom vielen Brüllen so erschöpft, dass er sich verzweifelt auf die Seite rollte. Es war sogar eine dicke Träne in seinem Auge zu sehen.

»Na komm, Großer, sei nicht traurig«, sagte das Mäuslein, »ich glaube, ich kann dir helfen.« Und auf einmal spürte der Löwe, wie die kleinen, nackten, warmen Füßchen der Maus über seine Tatzen und seinen Körper huschten und die scharfen Zähne an dem Netz zu nagen begannen. Eine Masche nach der anderen durchbiss der kleine Nager und schließlich war das Netz so weit geöffnet, dass der Löwe es unter mächtigem Gebrüll zerreißen konnte.

Die kleine Maus war vorsichtshalber schon zur Seite gesprungen, denn wer weiß – so ein wilder Löwe ist zu allem fähig. Dieser aber sprach zu seiner kleinen Retterin: »Liebes Mäuslein, ich danke dir. Heute habe ich gemerkt, dass es nicht allein auf Größe und Kraft ankommt. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte das mein Ende bedeutet.«