Schuljahr »außer Plan«. Ein Experiment in Schopfheim

Magdalene Dycke

Schon bei meinem ersten Durchgang versuchte ich, Elemente aus dem »Bochumer Modell« zu integrieren, den Vormittag für die Kleinen gesundheitsfördernd und mit viel Bewegungselementen zu gestalten sowie einen Tagesabschluss einzuführen und vieles mehr. Außerdem legte ich im Laufe der acht Klassenlehrerjahre stets einen Schwerpunkt auf handwerkliches Tun, selbstständiges Arbeiten und Projektarbeit innerhalb und außerhalb des Schulvormittages.

Doch für die neue Klasse schienen mir die Ansätze von damals nicht ausreichend genug. Der Mangel vieler Kinder an Bewegung, Rhythmus, Naturerlebnissen, Ritualen, sozialen Herausforderungen, Raum für freies Spiel sowie Möglichkeiten, sich in autonomer Weise kreativ zu entfalten, bewog mich dazu, die Vormittagsgestaltung des ersten Schuljahres neu zu denken. 

Als »Leitmotive« dienten mir folgende Gesichtspunkte:

• den Vormittag als Gesamtheit gestalten
• Zeit für freies Spiel und autonomes Lernen schaffen
• Rituale und Feste pflegen
• gemeinsames Frühstück bereiten und einnehmen
• die Nachreifung der basalen Sinne pflegen
• einen wöchentlichen Wandertag durchführen
• die Einrichtung eines »beweglichen Klassenzimmers« und die Arbeitsform des »Lernkreises«.

Konsequenz: ein langer Vormittag

Gleich zu Beginn der Planung wurde deutlich:

• ein Ausstieg aus dem regulären Stundenplanmuster ist unumgänglich,
• der Vormittag muss insgesamt ausgedehnt werden, um die gewünschten Freiräume zu schaffen.

Durch das Angebot der Handarbeitskollegin, die Klasse täglich mindestens bis 10 Uhr zu begleiten, ergaben sich neue Möglichkeiten. 

Der neue Stundenplan:

8.00 – 8.15 Uhr: Morgenkreis / Rituale
8.20 – 9.00 Uhr: Spielwerkstatt / Handarbeit
9.00 – 9.40 Uhr: Englisch bzw. Eurythmie
9.40 – 10.10 Uhr: Frühstück
10.15 – 10.40 Uhr: Hofpause
10.45 – 11.40 Uhr: Epoche
11.45 – 12.15 Uhr: Musik, Religion, Kreisspiele
12.15 – 12.45 Uhr: Tagesabschluss und Märchen 

Die »Spielwerkstatt« entstand aus dem Anliegen, Freiraum für Spiel, Bewegung und autonomes Lernen zu schaffen. Diese Zeit stand je nach Wochentag unter einem speziellen Duktus (Montag: Spiele / Übungen zur Stärkung der Basalsinne. Dienstag: Spielstationen / Geschicklichkeitsspiele. Mittwoch: Freispiel [Bauen mit Möbeln, Holz, basteln, malen, lesen, rechnen, stricken …] Donnerstag: Geschicklichkeitsparcours. Freitag: Musik).

Zur Intensivierung des Handarbeitsunterrichts richteten wir kleine Gruppen ein. Jeder Schüler sollte sechsmal im Schuljahr eine Woche lang täglich 40 Minuten Handarbeit haben. Die Gruppengröße variierte je nach der Wochenanzahl zwischen zwei Ferienblöcken. Im Rückblick haben wir diese Variante als sehr sinnvoll erlebt, da gerade beim Einführen des Strickens die Kinder nicht so lange Wartezeiten hatten und durch das tägliche Üben gut in den Arbeitsprozess einsteigen konnten. Jetzt, im 2. Schuljahr, hatten die Kinder keine Mühe, auf die herkömmliche Art mit 18 Schülern einmal pro Woche während 90 Minuten zu arbeiten. 

Epoche erst am späten Vormittag? 

Die Frage nach einem günstigen Zeitpunkt der Epochenphase stellte sich mir von Anfang an. Durch die Handarbeit, Spielwerkstatt und Hofpause war nur ein späterer Zeitpunkt möglich. Es stellte sich aber heraus, dass das für den größten Teil der Kinder kein Problem darstellte. Ich hatte viel eher den Eindruck, dass die Kinder die Zeit bis 10.30 Uhr, in der überwiegend gespielt und praktisch gearbeitet wurde, brauchten, um richtig im Tag anzukommen. So waren sie nach der Pause – mit frischer Luft versorgt und satt – vollkommen präsent und lernbereit. 

Der Lernkreis als neue Arbeitsform 

Im Laufe des ersten Schuljahres stellte sich heraus, welche vielfältigen Arbeitsformen im Kreis möglich sind. In allen Epochen fanden die wesentlichsten Phasen im Kreis statt: Formen und Buchstaben laufen, mit Kindern Materialien legen und bewegen, großformatiges Zeichnen, ertasten und erfühlen, Partner- und Gruppen­arbeit, Darstellung von Mengen und Zahlen, Rechnen in Aktion und durch Bewegung … jede Einführung eines neuen Themas fand im Kreis statt. Die frontale Sitzordnung war nur dann erforderlich, wenn Dinge von der Tafel abgenommen werden mussten, was bei uns aber nicht täglich der Fall war.

Im Gespräch mit einer Förderpädagogin tauchte die Frage auf, ob die Arbeit im Kreis für Kinder mit labiler Seitigkeit oder Schwächen bei der Orientierung im Raum förderlich sei. Dies muss im Einzelfall beachtet werden, doch konnte ich insgesamt bei meiner Klasse die größte Aufmerksamkeit im Kreis erreichen.

Man kann auch im Liegen ordentlich arbeiten 

Mit den Bänkchen und Kissen des »beweglichen Klassenzimmers« ist ein außergewöhnlich vielfältiges Arbeiten möglich. Sie dienen nicht nur als Mobiliar, sondern auch als Spielgerät. Die Kinder balancieren nicht nur darauf und bauen damit. Mit den Kissen wird gerechnet und Formen gelegt. Einfach und schnell setzen sich die Kinder bei der Partnerarbeit auf den Bänkchen gegenüber und ohne Lärm und Aufwand sind Gruppenarbeitsplätze eingerichtet. Beim schriftlichen Arbeiten kann das Kind seine bevorzugte Haltung auf dem Kissen einnehmen. Erstaunlich waren auch die Ergebnisse der Arbeiten, bei denen die Kinder zum Teil am Boden lagen. Die Erfahrung zeigt, dass ordentliches Arbeiten nicht primär mit einer bestimmten Sitzposition zu tun hat – zumindest nicht im frühen Grundschulalter. 

Das Wandern ist der Kinder Lust 

Jeden Freitag machten wir uns bei Wind und Wetter um 9 Uhr auf den Weg: durch ein uraltes Eichenwäldchen hinauf auf die Höhen des Dinkelbergs, durch Streuobstwiesen und Felder bis zu einem ausgelichteten Waldstück, das im Lauf des Jahres unsere »Heimat« wurde. Aus Astwerk und Gestrüpp entstanden viele Hütten, die mit der Zeit ein richtiges Dörfchen bildeten. Die Kinder kletterten auf hohe Bäume und turnten darin; sie balancierten auf Baumstämmen, strolchten im Dickicht herum, rannten im Sommer barfuß über Stoppelfelder, im Herbst durch lange Maisfelder und aßen Fallobst. Im Winter rutschten sie auf dem Eis und tobten im Schnee. Sie beobachteten aufmerksam das erste Sprießen des Getreides, dann das Wachsen der Halme, bis wir schließlich im Sommer zwischen den wogenden Getreidefeldern wanderten – immer denselben Weg, aber in steter Verwandlung und immer wieder neu.

Noch heute, im zweiten Schuljahr ist es ein Fest, wenn wir mindestens einmal vor jeden Ferien diesen liebgewonnen Weg zu unserem vertrauten Platz gehen. Es ist wie ein »Heimkommen«: die Kinder kennen jeden Winkel und bemerken die jahreszeitlichen oder sonstigen Verän­derungen. 

Wie bringt man den Stoff unter? 

Ich konnte feststellen, dass trotz des fehlenden Unterrichtstages inhaltlich nicht weniger gelernt wurde, als ich es vor acht Jahren mit einem regulären Stundenplan erlebt hatte. Im Gegenteil: Während der Tage im Schulhaus war in der Regel eine intensive Lern- und Arbeitsfreude zu beobachten, wobei in weniger Zeit mehr gearbeitet wurde. Was die Kinder draußen in der Natur lernten, will ich hier nicht aufzählen. Es hat jedenfalls unschätzbaren Wert für die gesamte Entwicklung der Kinder!

Im zweiten Schuljahr mussten wir uns aus organisatorischen Gründen wieder in den allgemeinen Stundenplan der Schule eingliedern. Aber als »neues Fach« blieb für meine Klasse die »Spielwerkstatt« einmal wöchentlich erhalten. Diese Stunde ist immer noch der Höhepunkt der Woche, auf den die Kinder zuleben. Wenn ich als Beobachterin im Hintergrund sehe, wie intensiv gespielt, gebaut und gearbeitet wird, wie soziale Prozesse durchlebt und geregelt werden, bin ich gerührt und glücklich über das, was alles möglich ist, wenn den Kindern Freiraum für autonomes Tun gegeben wird.