Spiegelungen. Einladung zu einer Entdeckungsreise im Lehrplan der Waldorfschulen

Christian Boettger

Von welchen Gesichtspunkten ließ sich Rudolf Steiner bei seiner ursprünglichen Konzeption des Lehrplans leiten? Ein Gesichtspunkt findet sich in einem Vortrag, den er am 4. November 1910 in Berlin lange vor der Gründung der ersten Waldorfschule hielt: die Stärkung der Gedächtniskräfte. Bei einer siebenklassigen Schule sollten sich die Lerninhalte der dritten in der fünften, die der zweiten in der sechsten und die der ersten in der siebten Klasse »verändert« wiederholen. Die 4. Klasse stünde wie eine Spiegelungsachse dazwischen: »Das würde«, so Steiner, »eine vorzügliche Stärkung des Gedächtnisses bedeuten und die Menschen würden schon sehen, wenn sie dies in die Praxis einführten, wie segensreich sich diese Dinge auswirken würden, einfach aus dem Grunde, weil sie den Gesetzen des wirklichen Lebens entstammen.« Durch die horizontalen Verknüpfungen von Fachinhalten und Vertiefungen, die durch ein Wiederaufgreifen des Stoffes in höheren Klassenstufen entstehen, werden die Phantasiekräfte der Kinder und Jugendlichen angeregt – zum Beispiel die Griechenland-Epoche in der 5. und die Geschichtsepoche in der 10. Klasse. Auch für die Lehrerinnen und Lehrer stellt Rudolf Steiner vielfältige Forschungsfragen. Zum Beispiel über den Zusammenhang von Stricken und Rechnen bzw. Mathematik oder von Handarbeit und Geschichte.

Der Mensch lernt durch Wiederholung

Verschiedene Spiegelungen findet man im Lehrplan der Waldorfschulen, die zu eigenen Entdeckungen in dieser großen Komposition anregen und die Entwicklung der Kinder im Zusammenhang sehen lassen lernen – zum Beispiel auf dem Weg vom Formenzeichnen über die Freihand-Geometrie, die geometrischen Konstruktionen bis zu den Gedankenbewegungen in der Projektiven Geometrie. Was bedeutet es andererseits, wenn Kinder in der 3. Klasse im Rahmen der Ackerbau-Epoche den Weg erfahren vom Einsäen des Korns bis zum selbstgebackenen Brot im Kontrast zu einer Ernährungslehre oder einem Küchenpraktikum in der 7. Klasse und dem Gartenbauunterricht in der Mittelstufe bis hin zu der Reflexionsmöglichkeit im Landwirtschaftspraktikum der 9., einem Ökologiepraktikum in der 11. oder einer Globalisierungsepoche in der 12. Klasse?

Welche Metamorphose wird sichtbar, wenn man das Hausbauprojekt der 3. Klasse mit der Kunst- und Architektur-Epoche der 12. Klasse in Beziehung setzt, oder wenn man die Handwerker-Epochen der 3. Klasse und die handfesten Erlebnisse beim Besuch des Schmieds, des Wagners oder Schreiners mit den Epochen im Handwerk der Oberstufe und den dazu gehörigen Praktika in Verbindung bringt?

In diesen wenigen Bezügen wird sichtbar, wie jedes Mal zunächst die Kinder einen möglichst großen Sinnzusammenhang tätig erleben oder durchleben. Das geschieht absichtlich noch nicht vollbewusst reflektierend. Erst nach einer Phase des Absinkens der Erlebnisse wird in der Oberstufe damit begonnen, in einer Stufenfolge von Vertiefungen zu einem Urteil durchzudringen. Nur auf diesem Boden können kreative Lösungen für die Zukunft gedeihen. Wenn die Lernerfahrungen des dritten Schuljahres durch eine Schmiede- oder Schreinerepoche oder durch Erfahrungen im Industriepraktikum wieder aufgegriffen werden, also wieder durch eine praktische Tätigkeit, wird dann ein neues Reflexionsniveau erreicht. Neurophysiologische Forschungen zeigen, dass die Grundlagen unseres Nervensinnessystems immer durch praktische Tätigkeiten und Erfahrungen gelegt werden. Eine Reflexion der Erfahrungen in späteren Jahren kann auf diesen früher gelegten Grundlagen aufbauen. Je satter die praktischen Erfahrungen waren, desto besser kann ein Mensch später für neue Probleme neue kreative Lösungen finden.

Die Schülerinnen und Schüler sollen erleben, dass jeder Stoff unendliche Tiefen und Verknüpfungsmöglichkeiten bietet. Durch die sich spiegelnden Bezüge oder das zirkuläre Curriculum, in dem Inhalte wieder aufgegriffen und vertieft werden, wird diese Tiefendimension des Stoffes für die Schüler evident und verstärkt so eine Art Beheimatungsgefühl in der Welt, eine Daseinssicherheit: Die Welt ist durch mich gestaltbar.

Zum Autor: Christian Boettger ist Geschäftsführer beim Bund der Freien Waldorfschulen und in der Pädagogischen Forschungsstelle. Er war Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an der Waldorfschule in Schopfheim.