Tafelbilder – ein Geschenk an die Schüler

Katharina Kern

Als ich das erste Mal eine Waldorfklasse besuchte, fiel mir gleich die wunderschön bemalte Tafel auf. Die Tafelseiten waren geschlossen und zeigten eine farbenfrohe Frühlingslandschaft. Ich dachte, wie schön es doch für die Schüler sein muss, jeden Morgen mit solch einem Tafelbild begrüßt zu werden. Die Klassenlehrerin erklärte mir, dass Tafelbilder »typisch Waldorf« seien und die Tafel nach dem Prinzip eines Buches benutzt werde. Die Titelseite wird mit einem ansprechenden Bild geschmückt und regt die Sinne und das Fühlen an. Wenn man die Seiten aufklappt, folgt das Geschriebene, das zum Lernteil gehört und somit das Denken anregt.

Anfangs dachte ich, es sei den Klassenlehrern vorbehalten, solche Tafelbilder zu malen und kam gar nicht erst auf die Idee, als Fachlehrerin selber die Kreide zum Malen in die Hand zu nehmen. Aber irgendwann tat ich es dann doch. Denn wie kann man den Inhalt eines Gedichtes in einer Fremdsprache besser unterstützen, als mit Bildern? Nun kann man sagen, dass das auch leichter geht: Fotos ausdrucken, auf Pappe kleben, hochhalten oder an die Wand heften und fertig. Aber zum einen findet man ja nicht immer Bilder, die das zeigen, was man sich vorstellt und was man seinen Schülern zeigen möchte, und zum anderen fühlen sich solche Bilder doch sehr kalt und leblos an.

Bilder, die alle Sinne anregen

Erst später las ich, dass Rudolf Steiner selbst in seinen Konferenzen darauf hinwies, dass in den Klassen »nichts Unkünstlerisches« vorhanden sein dürfe und dass »die Wände einem nicht als Wände entgegentreten, dass sie etwas von Bildern haben müssten«. Das sollten allerdings Bilder sein, die in den Raum passen und auf die Kinder Eindruck machen. Auch sollten Dinge, die im Unterricht behandelt werden, wie eben Gedichte, für sie »ins Bild«, also ins Malerische, übersetzt werden. So soll vermieden werden, dass beispielsweise ein Gedicht zu rational nähergebracht wird und seinen – »Duft verliert«.

Und wie ginge das besser als mit Tafelbildern? Ich merkte schnell, dass ein Tafelbild wie ein Geschenk des Lehrers an seine Schüler ist. Denn der Lehrer, der es malt, gibt den Schülern eine Vision weiter – er drückt seine Gedanken in Empfindungen aus und setzt sie in Formen und Farben um, sodass die Schüler diese inneren Bilder des Lehrers sehend miterleben können. Von dieser künstlerisch umgesetzten Empfindung lebt das gemalte Tafelbild. Es kann bei den Schülern eine Resonanz erzeugen, indem es das Denken in ihrer Empfindungsseele anregt. Das klingt nun wieder sehr theoretisch und Schüler denken über so etwas überhaupt nicht nach. Sie empfinden ein Bild entweder als »schön« oder »geht so« oder »nicht so schön«. Ideal ist natürlich der erste Fall. Das genauere Anschauen von Farben und Formen in der Malerei schult die Wahrnehmung und das ästhetische Empfinden. Und ich war freudig überrascht, wie genau sie tatsächlich hinschauten und welche Details sie entdeckten.

Mit den Kindern gemeinsam malen

Meine ersten beiden Tafelbilder waren Bilder für die 7. Klasse. Wir hatten im rhythmischen Teil des Englischunterrichts das Gedicht ›The Law of the Jungle‹ von Rudyard Kipling zu lernen angefangen und ehe ich’s mich versah, hatte ich eines Nachmittags die Kreiden in der Hand und bemalte eine Hälfte der Tafel mit einem Wolf in einer Ödlandschaft, darunter die Überschrift des Gedichts. Ich hatte gar nicht mit so vielen Kommentaren gerechnet, wie am nächsten Tag von den Schülern kamen, denn ich dachte ja, Waldorfschüler seien bereits an Tafelbilder gewöhnt. Und das sind sie ja auch – dennoch zeigte sich nun, dass so ein Geschenk trotz der Gewohnheit geschätzt und anerkannt wird.

Das sah ich vor allem am zweiten Tafelbild zu diesem Gedicht. Es war das Bild einer südasiatischen Landschaft im Abendlicht. Im Hintergrund sieht man die Umrisse zweier Wölfe und eine zerklüftete Felslandschaft in verschiedenen Schattierungen. Rechts vorne stapft ein Elefant (im Gedicht »Hathi the Silent«) gemütlich durchs grüne Weideland, dem Betrachter entgegen, und links vorn lauert ein Tiger im hohen, dichten Gras. Dieses Tafelbild wurde auch nach Wochen immer noch nicht weggewischt, obwohl wir längst ein ganz anderes Gedicht lernten. Es folgten Tafelbilder für den Geschichtsunterricht der 8. Klasse, wie das Portrait von Ludwig XVI. und Marie Antoinette zum Thema Französische Revolution. Dazu kam für den Lernteil noch eine Landkarte Frankreichs mit dem Schloss Versailles und diversen weiteren Details, die allzu Rationales verbildlichen sollten.

Für den Geschichtsunterricht der 7. Klasse regte eine Kollegin an, doch schwarze Pappe als Malgrund zu verwenden, da man das Bild dann fixieren und wieder verwenden könne. Ein weiterer Vorteil war, dass ich so eine viel diffenrenziertere Farbpalette nutzen konnte, da ich mit Pastellkreiden arbeitete. Das Motiv war die »Santa Maria« von Christoph Kolumbus. Schnell entstand die Idee, die Kinder den Malprozess miterleben zu lassen, indem ich in mehreren Schritten und an verschiedenen Tagen am Bild arbeitete. So konnten sie ihre Beobachtungsfähigkeiten schulen und durch genaues Hinsehen und Vergleichen feststellen, ob etwas Neues hinzugekommen war. Teil des Unterrichts war in beiden Klassen, dass die Motive abgemalt und die Schüler selbst künstlerisch tätig werden.

Was dabei passiert, ist für die Entwicklung der Kinder nicht zu unterschätzen. Thomas Wildgruber schreibt in seinem Handbuch zum Malen und Zeichnen vom 1. bis 8. Schuljahr über das Beobachten eines Kunstwerkes und die daraus resultierende künstlerische Eigentätigkeit: »Alle Bewegungen im Auge werden von feinsten Muskeln geführt. Selbst beim Fixieren eines ruhigen Objektes geschehen etwa 20- bis 150-mal pro Sekunde minimale ruckartig abtastende und fixierende Blickbewegungen (Saccaden) mit einer Dauer von je 10 bis 80 Millisekunden. So stellen wir im Sehen unbewusst aktiv ein vielfältig gestaltetes Bewegungsbild her. … Zu diesem komplexen Sehvorgang kommt noch die bewegende und tastende Tätigkeit der zeichnenden und malenden Hand hinzu. Es ist der ganze Mensch in seiner aufrechten, symmetrischen Leibesgestalt mit seinen in Gefühlen sich äußernden Wahrnehmungen und seinem denkenden Verstehen, der im bildnerischen Tun gebildet wird.«

Ich durfte auch ein Tafelbild zum Frühlingsanfang für die 4. Klasse malen. Da kam nur eine heimatlich anmutende Landschaft in Frage, mit bewölktem Himmel, noch kahlen Bäumen und gerade knospenden Blumen. Nicht mal der Schnee war in diesem Bild ganz geschmolzen und bedeckte noch hartnäckig einige Fleckchen Erde. Ein paar Wochen darauf ließ ich den Schnee schmelzen, der Untergrund wurde immer grüner, die Bäume bekamen Blätter und die Wolken waren verschwunden. So kann sich ein Tafelbild mit den Jahreszeiten immer weiter verändern und die Kinder erleben diese Veränderung aktiv und staunend mit.

Tafelbilder unterstützen alles Künstlerische und helfen den Schülern, ein »denkendes Anschauen und ein anschauendes Denken« zu entwickeln. Aus ihren Farben und Formen heraus erzeugen sie bestimmte Stimmungen, regen zu Ideen an oder wecken einfach nur Freude und sprechen so eine innere Wahrheit an.

Denn, wie schon Steiner in Kunst und Anthroposophie sagte, ist es »die Verwandtschaft des inneren Seelenlebens mit dem Farbigen«, die uns dabei hilft, »gleichzeitig [uns] selbst zu verlieren in der Farbe, gleichzeitig [uns] selber zu finden in [unserer] wahren Wesenheit«. Ich persönlich male einfach gern. Am liebsten für andere. Wie zum Beispiel Tafelbilder – als Geschenk an die Schüler.

Zur Autorin: Katharina Kern ist Englischlehrerin, seit 2014 an der Freien Waldorfschule Ravensburg. Sie unterstützt die berufsbegleitende Ausbildung zur Fremdsprachenlehrerin in Mannheim.

Literatur: R. Steiner: Konferenzen, Bd. 1, GA 300a, Dornach 1975.