Textzeugnisse – Last, Lust oder Alleinstellungsmerkmal?

Martin Laude

Notenzeugnisse sind vergleichbar leicht zu erstellende, justiziable Ergebnisse der Leistungsmessung, die zuerst der Versetzung und dann der Ausbildungs- oder Hochschulzugangsberechtigung dienen. Eltern und Schüler nehmen Noten gerne als scheinbar objektives Leistungsergebnis, das unkompliziert mitteilbar ist: Eine Note 2 in einem Fach scheint eine für jeden eindeutige Aussage zu sein. Es bleibt aber offen, ob diese Leistung entstanden ist, indem der Schüler über sich hinauswuchs, oder nebenbei – und eigentlich mehr zu erwarten gewesen wäre.

Was können gelungene Textzeugnisse dagegen leisten? Im Idealfall wird der Schüler – je nach Alter für die Eltern oder für ihn selbst – aus einer wohlwollenden und sachlichen Außensicht, die zumindest im frühen Klassenlehrerzeugnis auch bildhaft sein kann, mit dem Ziel charakterisiert, dass der Erziehende mehr über sein Kind oder der Heranwachsende mehr über sich erfährt. Eine solche Charakterisierung kann und soll helfen, dass einerseits unentdeckte Potenziale oder Fähigkeiten benannt werden, andererseits aber auch, dass auf geleistete oder noch ausgebliebene Entwicklungsschritte hingewiesen wird. Der Schüler soll für seine Anstrengung und Leistung gelobt werden. Für anstehende Schritte können ihm Mut und Vertrauen zu- und ausgesprochen werden.

Nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, dass sich der Lehrer beim Verfassen solcher Zeugnisse in einer ganz konzentrierten Art jeden seiner Schüler ins Bewusstsein rufen muss und dadurch zu einem neuen Blick auf den Einzelnen kommen kann. Die Forderung, zu »charakterisieren«, ist ernst zu nehmen. Charakterisieren heißt, eher beschreiben als bewerten. Die Chance der Charakterisierung liegt darin, dass tatsächlich das werdende, sich entwickelnde Individuum in den Blick genommen wird. Es besteht die Möglichkeit, dass man selbst dann, wenn einem ein Kind Sorgen macht, Zuversicht, Zutrauen und Hoffnung aussprechen darf, was aber nicht heißen soll, dass nicht auf Schwächen und Schwierigkeiten klar, aber positiv hingewiesen werden soll. Das Ideal der Charakterisierung liegt darin, dass der Lehrer die Individualität des Schülers in ihrer Entwicklung erfasst und darstellen kann. Es ist ja tatsächlich nicht einfach, auffälliges, sogar als störend empfundenes Verhalten nicht gleich zu bewerten, sondern eher zu beschreiben – können doch schriftlich gefasste Negativurteile am Kind bis ins Erwachsenenalter haften bleiben und bewirken oft nichts Positives. Die Schwierigkeit, einen Schüler zu charakterisieren, kann aber auch aus dessen Unauffälligkeit kommen, was dann die Wahrnehmungsfähigkeit des Lehrers herausfordert.

So kann das gelungene Textzeugnis für Eltern, Schüler und Lehrer ein wesentlicher Teil der Entwicklungsbegleitung sein, da es dem Lehrer ermöglicht, den Schüler, dessen Sein und Werden unter zahlreichen Gesichtspunkten zu beschreiben. Der Leistungsaspekt ist dabei einer von vielen. Es besteht sicher ein Zusammenhang zwischen der vielfach gehörten und gelesenen Aussage, dass Waldorfschüler sozialer seien und sich intensiver und um der Sache Willen mit den Lerninhalten auseinandersetzen, und der Tatsache, dass die Zeugnisse nicht nur ihre Leistungen spiegeln, sondern die sich entwickelnde Persönlichkeit. Welche Konsequenzen können einfache, wenig charakterisierende Textzeugnisse haben? Solche Textzeugnisse können dazu führen, dass Schüler eher das tun, was sich positiv fürs Zeugnis auswirkt, als das, was sie interessiert. Wenn die Note zu stark im Vordergrund steht, interessieren sich Schüler und Eltern oft nur wenig für die übrigen Kommentare, da ja das Ergebnis zu stimmen scheint. Die Zeugnisse können so zu Disziplinierungsmaßnahmen verkommen, der Erkenntnisgewinn für Schüler und Lehrer ist gering – Bewertungen dazu, kann man in den »Konferenzen« mit Rudolf Steiner (GA 300a-c) nachlesen.

Zeugnisse schreiben oder Pfingstferien machen?

Wie sind die Textzeugnisse aber sinnvoll zu bewältigen? Wenn ich mich im Vorfeld der Pfingstferien mit Kolleginnen und Kollegen unterhalte, wird deutlich, dass die Pfingst­ferien, die letzten Ferien vor dem Jahreszeugnis vielfach dem Zeugnisschreiben gewidmet werden. Die Klassen­lehrer schreiben zwei oder drei Textzeugnisse an einem Tag, Hauptunterricht- und Fachzeugnisse lassen sich wesentlich schneller bewältigen. Die Klassenlehrer setzen sich an einem Tag mit wenigen Schülern sehr intensiv auf das Jahr zurück­blickend auseinander; der Oberstufen- bzw. Fachlehrer, der in der Regel ja mehr Zeugnisse zu schreiben hat, die wesentlich kürzer und inhaltsbezogener sind, und der zum Teil noch einen wesentlichen Teil des Unterrichtes unmittelbar vor den Sommerferien gibt, setzt sich mit vielen Schülern an einem Tag auseinander, wobei es sehr hilfreich ist, diese Arbeit in Ruhe über mehrere Stunden am Tag zu leisten.

Wie können nun möglichst aufschlussreiche Charakterisierungen entstehen, ohne Zeitdruck, ohne die Pfingstferien ausschließlich am Schreibtisch zu verbringen?

Als Oberstufenlehrer habe ich folgenden Weg gefunden: Ich schreibe inzwischen die Kommentare zu Klassenarbeiten, Hausaufsätzen und Epochenheften auf Blätter, die ich kopiere, bevor ich sie den Schülern austeile. Da ich diese Kommentare dadurch nicht noch einmal abschreiben muss, fallen sie meist recht ausführlich und differenziert aus. Während, spätestens aber nach den Epochen, mache ich mir Notizen zu jedem Schüler, wie die mündliche Mitarbeit war, wie die Auseinandersetzung mit den Inhalten verlief, welche Entwicklung in der Urteilsbildung und im selbstständigen Umgang mit den Themen wahrgenommen werden konnte. Wenn ich dann die Zeugnisse schreibe, muss ich nicht aus verkürzten Kommentaren oder Noten wieder ein Bild erstellen, sondern orientiere mich an den Formulierungen aus den Kommentar­texten, die im Laufe des Jahres entstanden sind. So ist das Schreiben der Zeugnisse natürlich noch Arbeit, doch entfällt ein großer Stressfaktor dadurch, dass ich im Wesentlichen die Charakterisierungsvorlage während des Jahres schon geschrieben habe und nur noch aus den verschiedenen Eindrücken zu einem Text kommen muss, in dem sich der Schüler wiederfinden kann. Nicht selten bekomme ich während des Schreibens ein neues Bild von dem Schüler oder es werden mir Entwicklungen bewusst – das sind Momente, in denen mir das Zeugnisschreiben besonders Freude bereitet. Aussagekräftig für die Schülerindividualität, die sich im Umgang mit vielen einzelnen Fächern und unterschiedlichen Lehrerpersönlichkeiten widerspiegelt, ist das vollständige Zeugnis, das sich aus den einzelnen, in ihren Aussagen vielleicht auch widersprüchlichen Fachzeugnissen zusammensetzt.

Das Textzeugnis ist unentbehrlich, bei aller Mühe, die es den schreibenden Lehrern und lesenden Eltern und Schülern macht. Es liegt an uns Lehrern, dieses so individuell und aussagekräftig, zugleich für Veränderungen offen und ermutigend wie möglich zu gestalten – und es liegt an den Schülern und Eltern, diese zu lesen und offen zu sein für das, was die Lehrer ihnen mitteilen wollen. Denn als Lehrer weiß ich auch, wem ich welches Zeugnis schreiben kann. Offenheit der Schüler und Eltern ermöglicht es den Lehrern, sich differenzierter und charakterisierender zu äußern. Es können sich auch aufschlussreiche Begegnungen ergeben, wenn nach den Ferien ein Gespräch zwischen Lehrer und Schüler oder den Eltern über das erteilte Zeugnis stattfindet.

Zum Autor: Martin Laude ist Oberstufenlehrer an der FWS am Kräherwald und Gastdozent an der Freien Hochschule Stuttgart.

Literatur: Beiträge zum Thema, die in dieser Zeitschrift erschienen sind: D. Centmayer, 5/2007, B. Hardorp, 5/1998, U.-L. Keller: Gerechte Noten gibt es nicht …, 12/2012, T. Stöckli, 3/2002, S. Stolte, 3/2002, J. Vater, 3/2002