Untergang

Andreas Jost

Es war in der Zeit der großen Flüchtlingswelle, unzählige Menschen aus Afrika, Syrien, Irak und Afghanistan kamen nach Europa, täglich ertranken Dutzende im Mittelmeer. Die europäischen Staaten stritten sich über Aufnahmequoten, und da sie sich nicht einig wurden, fiel ihnen nichts Besseres ein, als Grenzen und Häfen zu schließen und die Flüchtlinge ihrem Schicksal zu überlassen. Ein Elend, das die Jugendlichen in meiner Klasse erschütterte und in hilflose Wut versetzte.

Zu dieser Zeit waren wir auf der Suche nach einem passenden Theaterstück für das Zwölftklassspiel. Da kam ich mit einem Vorschlag, der überraschte, weil noch keiner der Jugendlichen je etwas von diesem Autor gehört hatte: Albert Steffen und sein Drama »Fahrt ins andere Land«.

Ein Drama über die Titanic? Die meisten Schüler kannten den mit einem »Oscar« gekrönten Spielfilm mit Leonardo di Caprio und Kate Winslet. Ein Schiff voller mondäner Reisegäste geht am Mythos der eigenen Unsinkbarkeit zugrunde, nachdem es auf der Fahrt von Southampton nach New York mit einem Eisberg kollidiert ist. Aber es war nicht nur die obere Gesellschaftsschicht an Bord, auf den Zwischendecks drängten sich auch Hunderte von Auswanderern, die auf ein besseres Leben in der Neuen Welt hofften. Für sie gab es keine Rettungsboote, als sich die Katastrophe ereignete, ebenso wenig wie für die Techniker und Arbeiter im Maschinenraum. All diese Aspekte werden in Steffens Stück angesprochen, der soziale Konflikt steht im Mittelpunkt seines Dramas.

Doch kann man ein Theaterstück in der Sprache Albert Steffens heute noch aufführen? – Nein, das geht nicht, sagte mir eine professionelle Regisseurin aus dem Umfeld der Schule, die ich um Rat gebeten hatte. Das sei kein Stück für die Bühne, eigentlich auch kein richtiges Drama, eher eine Art anthroposophischer Abhandlung über die Titanic-Katastrophe.

Mir war klar: Der Text musste stark bearbeitet werden, gleichzeitig sollte er seinen tiefen Gehalt, die Auseinandersetzung mit dem Geist unserer heutigen Technik und Zivilisation, nicht einbüßen. Schließlich waren es genau die Fragen nach dem bedingungslosen Vertrauen in Fortschritt und Technik, in Beherrschung und Überwindung der Natur, die die Jugendlichen bewegten.

Albert Steffen schrieb das Stück vermutlich zwischen Januar und Juni 1938 nieder – auch unter dem Eindruck eines drohenden Weltkrieges. Die Ausführungen Rudolf Steiners im Vortragszyklus »Der Sturz der Geister der Finsternis« standen Pate. »Wo früher Götter herrschten, herrscht jetzt der Mensch durch die Maschinen. Diener der Technik«, notierte Steffen in seinem Tagebuch.

An zentraler Stelle, in der Mitte der sieben Bilder, die das Titanic-Geschehen betreffen, fügte er ein Gedicht »Der Kampf um die Menschenform« ein, das seine Auseinandersetzung mit der Verführbarkeit des Menschen durch Hybris und Größenwahn und den neu aufflammenden Nationalismus umkreist:

Es ist das Gift der Völker, das den Tod
der ganzen Menschheit bringt. Du hörst ihr Wehe,
und du erkennst, vom Weltenbrand umloht,
den Antichrist, der will, dass untergehe
der Mensch, der liebt, im Blute, das verroht.

So heißt es im letzten Vers des Gedichts, das Steffen dem Dichter Herbert in den Mund legt. Das siebenstrophige Gedicht war für meine Schüler die erste Begegnung mit Albert Steffen. Noch vor Beginn der Proben zum Klassenspiel studierten wir es ein und trugen es als Sprechchor vor der Schulgemeinschaft vor – zusammen mit einem Gedicht seines Zeitgenossen Hermann Hesse. Auf diese Weise entstand bei den Schülern eine mehr oder weniger bewusste Verbindung zum eigentlichen Hintergrundgeschehen des Stücks – Überhebung des Menschen über die Natur, über Seinesgleichen, über andere Völker und Nationen. Den roten Faden, den Steffen von der alten ägyptischen Kultur bis zur Titanic-Katastrophe spinnt, machte er an Zeitungsberichten fest, wonach an Bord des Unglücksschiffs auch eine Mumie gewesen sei, die zuvor schon im Britischen Museum viel Unheil gestiftet habe und nun nach Amerika überführt werden sollte. Eine Legende aus der Presse. Die Mumie spielt eine Art stumme Hauptrolle. Schon das Vorspiel des Stücks führt in die düstere Grabkammer der ägyptischen Königstochter. Eine Expedition unter der Leitung des Ägyptologen Professor Fisher hat den geheimen Ort entdeckt, und während ihre flackernden Lichter die Grabkammer allmählich erhellen, erläutert Fisher die Bilder der Wandmalerei. Unter den Teilnehmern der Expedition befinden sich auch Fishers Sohn Herbert, ein Dichter, sowie dessen Gattin Mary, eine Malerin. Sie bilden einen Kontrast zum wissenschaftlichen Team, unter dem sich sogleich ein Disput über Mythos und Aberglaube der alten Ägypter entspinnt. Diese Diskussion findet ein jähes Ende, als sich aus der Flinte eines Technikers, der die heulenden Schakale vertreiben möchte, ein Schuss löst und den Techniker verletzt. Das erste Unglück im Zusammenhang mit der Ruhestörung der Mumie ist eingetreten.

Das 1. Bild des Dramas zeigt die Zollstelle von Southampton mit Blick auf die Hafenanlage und die vor Anker liegende Titanic, kurz vor dem Ablegen zur Jungfernfahrt nach New York. Hier, wie in einigen anderen Szenen auch, konnten sich die Techniker und Tüftler der Klasse mithilfe einer Leinwand im Bühnenhintergrund und digitaler Projektion einbringen und eine realitätsnahe Atmosphäre mit Hafenszenerie erzeugen. Anderson, der Techniker, der sich in der Grabkammer verletzt hatte, erscheint nun als Zollbeamter wieder. Er entdeckt unter den eincheckenden Passagieren auch Professor Fisher, dessen Sohn Herbert mit Frau Mary sowie die Mumie  in ihrem Gepäck. Anderson, durch seinen eigenen Unfall und weitere mysteriöse Todesfälle im Zusammenhang mit der Mumie gewarnt, versucht die Einschiffung der Mumie zu verhindern. Aber es gelingt ihm nicht. Die nächsten zwei Bilder illustrieren das Leben an Bord des Luxusliners während der Überfahrt. Im Festsaal werden unter funkelnden Kronleuchtern Tanzbälle veranstaltet und Lobreden auf das Wunderwerk der Technik gehalten, während der Vortrag des Gedichtes »Der Kampf um die Menschenform« auf Missfallen und Spott des verwöhnten Publikums stößt. Man ergeht sich auf dem Promenadendeck unter dem Sternenhimmel und ergötzt sich am Anblick phosphoreszierender Quallen. In den nächtlichen Gesprächen von Herbert und Mary, deren gemeinsames Kind vor kurzem gestorben ist, wird deutlich, dass sie sich von der Oberflächlichkeit und Hohlheit der Reisegesellschaft entfremdet und abgestoßen fühlen.

Als Kontrast zum Treiben der oberen Gesellschaftsschicht werteten wir die Rolle einer jungen Mutter und Emigrantin (Frau Wronsky) auf. Auch sie erschien in unserer Version nachts an Deck und erzählte in einem Monolog ihre Geschichte. In Anlehnung an Steffens Text wird sie, Frau Wronsky, auf dem dramatischen Höhepunkt des Stücks, unmittelbar vor dem Untergang, ihr Neugeborenes in den Mumienkasten der ägyptischen Prinzessin legen und somit vor dem Ertrinken retten. Wie in Charons Barke, doch beschützt von unsichtbarer Hand, gleitet es durch den Totenfluss und wird schließlich zum letzten Überlebenden der Katastrophe. Die Todeskräfte, die von der Mumie ausgingen, haben sich damit in die Zukunftskräfte des geretteten Kindes verwandelt – ein genialer Kunstgriff des Dichters.

In scharfem Gegensatz zum Treiben im Casino steht die Szenerie des 5. Bildes, das im Maschinenraum der Titanic handelt. Im überhitzten Klima dampfender Kessel, stampfender Kolben und funkensprühender Dynamos mühen sich Heizer, Maschinisten und angeheuerte Hilfskräfte – darunter auch Frau Wronskys Mann –, das Räderwerk am Laufen zu halten. Ihre Lebens- und Arbeitsrealität macht den Preis sichtbar, den der Luxus fordert: Auf ihren Schultern lastet die gesamte Verantwortung für das Funktionieren des Triebwerks, ohne dass sie selber an der Welt beteiligt sind, die sie durch ihre Arbeit aufrecht erhalten. Sie träumen von Revolution und Aufruhr, der Kommunismus erscheint ihnen als Lösung der sozialen Frage. Als sich mitten in ihren Debatten der Aufprall auf den Eisberg ereignet und das Schiff zu sinken beginnt, wird ihnen bewusst, was sie erwartet: Für sie stehen keine Rettungsboote zur Verfügung.

So steuert das Drama im 6. Bild seinem unausweichlichen Höhepunkt entgegen. Während die besonnenen Kräfte Chaos und Panik zu ordnen und zu beruhigen versuchen – darunter auch Kapitän Smith und Ingenieur Ohm, der schon in der Grabkammer dabei war – versucht Fisher seinen Schicksalsgefährten die eigentliche Botschaft der Mumie zu vermitteln: »Das Schicksal hat uns mit ihr zusammengeführt, damit sie uns an die Unsterblichkeit erinnert.« Der nahende Tod offenbart ihm den Sinn seiner Lebensmission. Durch diese Erkenntniskraft scheint die Macht des Todes gebrochen. Die unheilbringende Wirkung der Mumie löst sich auf und ihr leeres Gehäuse kann so zum Rettungsboot für das Kind der Zukunft werden.

Die eigentliche Untergangsszene entfaltete in unserer Aufführung eine ungeahnte Wirkung. Unter dem langsamen Verschließen des Bühnenvorhangs waren nur noch die Gestalt der über den Mumienkasten gebeugten Frau Wronsky und das hinter ihr auf der Leinwand erscheinende Bildnis der ägyptischen Prinzessin zu sehen, während ein Musikerensemble den letzten Choral des Titanic-
Orchesters Nearer, My God, to Thee von Bach spielte. Diese außerordentlich gelungene Lösung der schwierigen Szene hatten wir vor allem unserer damaligen Englischlehrerin Ann O’Connor zu verdanken, die die musikalische Umrahmung für das Stück einstudierte und teilweise selbst komponierte.

Das siebente und letzte Bild des Dramas handelt an Bord der Karpathia, die den Notruf der Titanic auffing und einige der Schiffbrüchigen retten konnte. Darunter auch Herbert und Mary, die sich dann des im Mumienkasten angeschwemmten Kindes annehmen. Professor Fisher, der die Rettung noch erlebt, stirbt entkräftet an Bord der Karpathia. Dort macht sich angesichts der Katastrophe mehr und mehr eine Stimmung der Hilfsbereitschaft und Opferwilligkeit breit. Die Verzweiflung der einen wird durch die aufopferungsvolle Hilfe der anderen gemildert und getragen.

Steffen lässt sein Drama in einem christlichen Auferstehungsmotiv ausklingen, in dem der durch seine Errettung geläuterte Direktor der White-Star-Linie vor der aufgehenden Sonne des neuen Tages intoniert:

Lasst uns ein Schiff für Christi Jünger bauen,
zur Ausfahrt, um sein Angesicht zu schauen,
für Menschen in der Wiege und im Sarge
und für die Seligen in der Sonnenbarke.

Der Anker sei das Kreuz, der Geist das Ruder!
Besatzung: Du, o Schwester, du, o Bruder!
Die Passagiere: schuldlos oder schuld,
sie bleiben stets in des Erlösers Huld.

Zum Autor: Andreas Jost arbeitet als Kunstlehrer und Klassenbetreuer der Oberstufe an der Waldorfschule am Illerblick, Ulm.

Literatur: A. Steffen: Fahrt ins andere Land. Drama in einem Vorspiel und sieben Bildern, Dornach 1972 | R. Steiner: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis. Vierzehn Vorträge, Dornach, GA 177 | Hinweise und Studien zum Lebenswerk von Albert Steffen, Heft 27/ 28. Dieses Heft diente dem Autor des Artikels als ausführ­liche Quelle zu Steffens Hintergrund für sein Drama.