¡Viva el español!

Birgit Eschenbaum, Vicky Lucio-Fülöp, Anne Wolf

Seit etwa zehn Jahren ist Spanisch als Unterrichtsfach an immer mehr deutschen Waldorfschulen präsent. Die meisten Schulen bieten es ab der 7. oder 9. Klasse an, andere haben den Schritt gewagt und beginnen gleich in der ersten Klasse damit als zweite Fremdsprache. Was macht das Spanische für die Waldorfschulen interessant? Was nehmen die Kinder und Jugendlichen mit, wenn sie es lernen?

Viele Gründe sprechen für eine Annäherung ans Spanische. Der Export in spanischsprachige Länder wächst, ebenso wie die Bedeutung der politischen Beziehungen zu Spanien und besonders zu Hispanoamerika. Viel mehr als diese äußerlichen Tatsachen beschäftigt Eltern und Pädagogen jedoch die Frage, inwiefern die neue Fremdsprache zur Persönlichkeitsbildung der jungen Menschen beitragen kann.

Denn: Jede Sprache ist viel mehr als das grammatische Regelwerk, das ihr zugrunde liegt, und der Wortschatz, dessen sie sich bedient. Sie würde nicht existieren ohne die Regionen, in denen sie sich entwickelt hat, ohne die Menschen, die sie im Laufe der Jahrhunderte gesprochen, in ihr gelebt und sie verändert haben. Schon eine oberflächliche Betrachtung führt uns vor Augen, dass die Menschen in den verschiedenen Ländern nicht nur unterschiedlich sprechen, sondern dass sich auch ihr Wesen in jeweils besonderer Weise in der Sprache manifestiert. Anne Wolf von der Freien Waldorfschule Greifswald, die von 1989 bis 1997 in Spanien und Lateinamerika lebte, schildert ihre Erfahrungen mit dem spanischen Anders-Sein und Birgit Eschenbaum von der Widarschule Wattenscheid begründet, warum es auch noch in der siebten oder neunten Klasse sinnvoll ist, Spanisch zu lernen.

Wenn die Uhren anders gehen

In dem galicischen Dorf Seixalvo betrat ich die Kneipe el bar del pueblo. Dort spielten einige ältere Herren konzentriert Domino. Ich trank an der Theke meinen Kaffee, als plötzlich der Ton rauer wurde. Ein Stuhl scharrte hart über den Boden. Als ich mich umdrehte, hatte sich das Bild völlig geändert: Zwei Männer standen einander gestikulierend gegenüber, die Stimmen waren laut geworden. Eine Minute später setzten sie sich, das Spiel ging weiter: Alles war gut, die Uneinigkeit über den Spielstand beigelegt. Eine solche Auseinandersetzung hätte in Deutschland wahrscheinlich zu wochenlangem Schweigen und mindestens vorübergehend zum Abbruch aller Beziehungen geführt. Nicht so in Spanien: Man verständigt sich lebhaft, klärt, was zu klären ist, und dann geht das Leben weiter. An jenem Tag in Seixalvo übernahm natürlich einer der Herren die Rechnung für beide. Nicht auszudenken, dass man kleine Beträge für gemein­samen Genuss auseinandersortiert. Heute bin ich großzügig, und morgen du; über die Zeit wird es schon passen.

Mit meinen damals knapp über zwanzig Jahren hielt ich mich für unkonventionell und nicht  gerade mit deutschen Tugenden behaftet. Bis ich mich mit spanischen Freunden zu einem Ausflug verabredete: Treffpunkt auf dem Dorfplatz, um drei. Nun, um fünf ging es schließlich los: Da war auch der Letzte lächelnd erschienen. Ab da legte ich meine typisch deutsche Pünktlichkeit bei allen informellen Verabredungen völlig ab: In Spanien fließt das Leben anders. Die Intensität des Moments zählt. Und wenn einer der Verab­redeten noch eine wichtige Begegnung hat – etwa ein spontanes Gespräch mit der Nachbarin –, ist der andere gut beraten, inzwischen seinerseits Kontakt zu anderen Menschen zu suchen, die Zeitung zu lesen oder dem Spiel von Sonne und Schatten auf dem Dorfplatz zuzusehen. Die Spanier besitzen eine selbstverständliche Ursprünglichkeit, erlebbar im Umgang der Menschen miteinander wie auch mit ihren Tätigkeiten. Ich bin immer wieder einer freundlichen Anteilnahme begegnet, die nie die Grenze zur Indiskretion überschritt. Und ich habe Menschen getroffen, die den jeweiligen Erfordernissen gemäß tatkräftig zupacken konnten. Das hatte sich als grundsätzliche Eigenschaft auch bei denjenigen erhalten, die schon längst keine Bauern, Fischer oder Handwerker mehr sind.

Spiritualität ist selbstverständlicher Teil des Lebens. Menschen jeden Alters sind in den Kirchen zur sonntäglichen Messe anzutreffen. Nicht nur die Form, auch der Inhalt zählt.  Selbst wenn die spanische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten sicher weltlicher geworden ist: Die Botschaft der Bibel ist für viele Menschen untrennbar verbunden mit dem Alltag und den Entscheidungen, die dieser erfordert.

Meine frühere spanische Schwiegermutter verfolgte wie viele in Spanien leidenschaftlich die Stierkämpfe, las corridas. In ihrer Gesellschaft entwickelte ich mich vorübergehend ebenfalls zur Expertin. Ich konnte nicht nur Ablauf und Regeln nachvollziehen, ich begann auch zu begreifen, dass der Stierkampf eine metaphorische Ebene besitzt. Es geht, im Erbe des alten Mithraskults, um die Überwindung des Bösen. Und es mag sehr wohl sein, dass das »Böse« – verkörpert durch den Stier – diesen Kampf gewinnt. Eben deshalb gebührt dem torero in seinem traje de luces, dem »Lichtanzug«, nach einem Sieg besonderer Respekt.

Christliche Ritter in finis terrae

Der Philosoph Manuel García Morente, 1912 mit 34 Jahren einst Spaniens jüngster Professor, identifizierte aus dem Exil heraus – Spanien hatte er im Zuge des von 1936 bis 1939 wütenden Bürgerkriegs verlassen – die Essenz des Spanischen an sich: »Die Idee eines christlichen Ritters«. Da mag man an die Inquisition denken, die in Spanien Schreckliches anrichtete, oder an die Eroberung des südamerikanischen Kontinents con la espada y con la cruz, mit Schwert und Kreuz. Das wäre aber noch lange nicht alles. Ritterlichkeit: Das heißt Würde und Ehre, Individualität – selbst in der Gebärde des Dienens –, die scheinbare Überlegenheit anderer kritisch hinterfragend; das bedeutet Großzügigkeit und Mut; das meint auch: Leben als Weg, das eigene Selbst beherrschend, in voller Anerkennung der Leistungen, die Andere erbringen. Ohne einen tiefen Glauben wäre all dies wertlos; und das Verinnerlichen dieser Werte führt wiederum zu einer Gelassenheit (sosiego), die mehr als einem Menschen – unter anderem Herbert Hahn in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts – deutlich aufgefallen ist.

Vergegenwärtigen wir uns das Land, von dessen Menschen hier die Rede ist. Die Iberische Halbinsel mit den heutigen Ländern Spanien und Portugal bildet die westlichste Region Europas. Nicht umsonst heißt ein Ort im nordspanischen Galicia Finisterre, abgeleitet vom lateinischen finis terrae: Hier war über viele Jahrhunderte buchstäblich die Welt zu Ende. Spanien und Portugal sind in alle Richtungen räumlich begrenzt: Im Norden ragen die – früher schier unüberwindlichen – Pyrenäen auf, und nach allen anderen Seiten erstrecken sich Mittelmeer und Atlantik. Herbert Hahn und Hans Erhard Lauer kamen beide zu dem Schluss, dass diese räumliche Gliederung einen klaren Appell an die Bewusstseinskräfte des Menschen darstelle. Hier, im europäischen Westen, habe das Zeitalter der Bewusstseinsseele noch früher begonnen als in den anderen europäischen Ländern. Die Menschen strebten zunächst hier nach Differenzierung, Individualisierung und klarer Form. Von hier aus wagten sie den Aufbruch in eine neue Welt.

Die spanische Sprache ist einerseits praktisch und pragmatisch, andererseits äußerst differenziert und darauf eingerichtet, die feinsten Nuancen der inneren Tätigkeit aus­- zudrücken und hörbar zu machen. Wer Spanisch lernt, wird sich in eine bewegte Intonation begeben – und sich dabei ertappen, dass er ein wenig schneller spricht als in der deutschen Muttersprache. Eine lebendige Mimik begleitet die Gedanken und Gefühle, die man auf Spanisch ausdrückt, und auch die Gesten unterstreichen das Gesagte; und dabei steht man doch fest und gelassen im Leben.

Auf den Zeitpunkt kommt es an

Der Sprachlehrer-Initiativkreis (Erziehungskunst, Juni 2016) empfiehlt in seinem Manifest das Erlernen zweier Fremdsprachen über zwölf Jahre. An einigen Schulen wird Spanisch ab Klasse eins erfolgreich unterrichtet. Jedoch werden nicht alle interessierten Schulen dies einrichten können oder wollen. Dann erscheint es günstig, die neue Fremdsprache in der siebten Klasse einzuführen. Bis dahin haben die Kinder bereits sechs Jahre Unterricht in der bisherigen zweiten Fremdsprache genossen und können schon allerhand.

Bei aller beginnenden Selbstständigkeit folgen sie ihren Lehrern noch gern. Wer sich zu diesem Zeitpunkt fürs Spanische entscheidet oder aber beschließt, beim Russischen oder Französischen zu bleiben, wird das bejahend tun: Das ist für den Lernerfolg bedeutsam. Die Siebtklässler können natürlich nicht mehr wie in der ersten Klasse die Nachahmungskräfte nutzen; sie sprechen aber gern nach, rezitieren, spielen und singen unbefangen gemeinsam. Wenn es dem Spanischlehrer, dem die Kinder vielleicht jetzt zum ersten Mal im Unterricht begegnen, gelingt, eine geliebte Autorität zu sein, so ermöglicht das eine lebendige erste Bekanntschaft mit der neuen Sprache.

Gegen Ende der Mittelstufe verändert sich das Kommunikationsverhalten der jungen Menschen: Manch einer verstummt fast völlig, fühlt sich in der eigenen Muttersprache nicht mehr und noch nicht wieder zu Hause; wir kennen daneben das ausufernde Kommunikationsbedürfnis vieler Siebtklässler, die ungeheuer viel mit ihren Freunden zu besprechen haben. Eine neue Sprache eröffnet beiden Gruppen neue Ausdrucksmöglichkeiten. Sie unterstützt die Kinder zudem darin, ihr Augenmerk auf die Notwendigkeit klarer Strukturen zu richten, die von Anfang an in der methodischen und inhaltlichen Unterrichtsgestaltung Beachtung finden müssen. Der Anfangsunterricht im Spanischen dreht sich zunächst um die Lebenswelt der Schüler. Die Siebtklässler tun da freudig mit. In der Oberstufe angekommen, brauchen sie andere geistige und seelische Nahrung. Nun sind aber auch ihre Sprachkenntnisse so weit fortgeschritten, dass man ihnen im Spanischunterricht die altersgemäße Wegzehrung anbieten kann. Spanisch ab Klasse sieben hat zudem den weiteren Vorteil, dass Lehrern wie Schülern noch viele Jahre bleiben bis zum Ende der Schulzeit: So wird gelassenes, ungestörtes Lernen möglich, ohne dass man sich von bald bevorstehenden Abschlüssen und ihren Anforderungen treiben lassen müsste.

Die neunte Klasse mit ihrem Eintritt in die Oberstufe ist ebenfalls ein möglicher Zeitpunkt, Spanisch als dritte Fremdsprache zur Wahl zu stellen. Basierend auf Vorwissen und Neugier der Schüler ist die Progression in diesem  späteinsetzenden Unterricht steil, das Engagement in diesem für vier Schuljahre freiwillig gewählten Fach oftmals beeindruckend.

Rund 470 Millionen Menschen weltweit sprechen Spanisch als Muttersprache. Es befindet sich an zweiter Stelle der meistgesprochenen Sprachen und ist in 21 Ländern Amtssprache. Diese Länder, ihre Denkweisen, ihre Kultur, Kunst und Musik, ihre Traditionen und Gewohnheiten, ihre Geschichte, politischen Systeme und aktuellen Probleme sind Themen des Unterrichts. Rechtschreibung und Aussprache des Spanischen sind einfach und schnell zu erlernen. Die Grammatik ist logisch aufgebaut und eröffnet den Schülern einen Zugang zum System der romanischen Sprachen.

Wann auch immer der Spanischunterricht einsetzt: Am Ende ihrer Schulzeit haben die Schüler für sich eine weitere Sprache und Welt erobert! ‹›

Gespräch mit Gisela Riegler, Initiatorin der Spanischlehrerausbildung in Mannheim

Die Fremdsprachenlehrer feiern Premiere: Diesen Sommer machen die ersten Absolventen im Fach Spanisch als Fremdsprache an der Akademie für Waldorfpädagogik in Mannheim ihren Abschluss. Es ist das erste Mal in Deutschland, dass Spanischlehrer eine eigens für sie konzipierte waldorfpädagogische Weiterbildung absolvieren. Die Initiative für diese zukunftsträchtige Ausbildung lag bei Gisela Riegler, der Leiterin des Sprachlehrerseminars an der Akademie für Waldorfpädagogik in Mannheim. Im September 2014 begann dieses neue Studienfach, das parallel zu den schon lange vorhandenen für Englisch, Französisch und Russisch angeboten wird.

Vicky Lucio-Fülöp | Was hat Sie dazu bewogen, den Studien­gang Spanisch ins Leben zu rufen?

Gisela Riegler | Die Tatsache, dass mittlerweile immer mehr Waldorfschulen in Deutschland Spanisch anbieten und die Fremdsprachenlehrer folglich eine entsprechende Weiterbildung in der Methodik und Didaktik für dieses Fach benötigen.

VL | Wie ist die Ausbildung aufgebaut, für wen ist sie gedacht?

GR | Es handelt sich um einen zweijährigen modularisierten Studiengang mit einem Abschlusszertifikat, wie es ihn für Englisch und Französisch bereits seit 2010 gibt. Ein erfolgreicher Abschluss dieser Weiterbildung berechtigt dazu, an Waldorfschulen Spanisch zu unterrichten. Einzelne Seminare können auch als Fortbildung belegt werden.

VL | Gibt es denn genügend Lehr- und Unterrichtsmaterial auf Spanisch?

GR | Hier ist noch viel zu tun. Während es für die anderen Fremdsprachen mittlerweile ein großes Angebot an Waldorf-Publikationen mit Gedichten, Versen, Zungenbrechern, kleinen Theaterstücken und Lektüren für alle Klassenstufen gibt, muss für Spanisch diese Pionierarbeit noch geleistet werden. Ein erster Anfang ist getan. Die anthroposophischen Verlage in Madrid und in Buenos Aires veröffentlichen bereits vielfältige Sekundärliteratur.

VL | Haben Sie Kontakte zu spanischen oder amerikanischen Waldorfschulen?

GR | Wir haben zunächst Kontakt zu zwei Waldorfschulen in Buenos Aires geknüpft. Darüber hinaus gibt es wertvolle Verbindungen zum Lehrerseminar in Madrid, eine Zusammenarbeit ist geplant. Die Waldorfschule in Barcelona hat im Juni 2016 die Türen geöffnet für die erste Spanischwoche, die »Semana Española«.

VL | Was können Sie Schulen empfehlen, die überlegen, welche Fremdsprachen sie in ihr Schulkonzept aufnehmen wollen?

GR | Spanisch ist im Kommen; und unsere Schüler werden sich gewiss über ein breiteres Fremdsprachenangebot freuen. Man sollte auch an die neuen Perspektiven für den Schüleraustausch denken und an all die Verbindungen, die schon lange durch Sozialpraktika, Patenschaften, das Freiwillige Soziale Jahr und das Engagement der Freunde der Erziehungskunst weltweit entstanden sind. Wenn wir in der Waldorfschulbewegung wirklich global denken, können wir gar nicht länger auf Spanisch verzichten. ‹›

Die Fragen stellte Vicky Lucio-Fülöp, Spanischdozentin an den Universitäten Bayreuth und Duisburg/Essen und Schülermutter an der Waldorfschule Düsseldorf.

Literatur: H. Hahn: Vom Genius Europas (Band 1), Stuttgart 1963; H. E. Lauer: Die Volksseelen Europas, Stuttgart 1965

Link: www.filosofia.org/his/h1938a1.htm