Warum Formenzeichnen mehr als eine Spielerei ist

Ernst Schuberth

Beginnen wir mit einem kleinen Experiment:

1. Zeichne die Form 1 vergrößert ab und vervollständige sie freihand so, dass sie symmetrisch wird. Kannst Du beobachten, was Dir ermöglicht, dies zu tun?

2. Zeichne die Form 2 vergrößert (in der angegebenen Lage) ab und zeichne die Symmetrieachsen ein. Wie schaffst Du das?


Untersuchungen zeigen, dass Grundschulkinder bei der Aufgabe, Symmetrieachsen in eine vorgegebene Figur einzuzeichnen, mehrheitlich das Blatt so drehen, dass Symmetrieachsen in die (äußere) Symmetrieebene des eigenen Körpers oder zumindest des eigenen Kopfes fallen. Das Erfassen von Symmetrie hängt fundamental mit der eigenen Körperlage zusammen, die wesentlich durch den Gleichgewichtssinn wahrgenommen und über die Muskulatur gesteuert wird. Stark verkürzt kann man sagen: Die in Waldorfschulen am ersten Schultag gezeichnete (vertikale) Gerade stellt dem Kind die aktiv erzeugte eigene Aufrichte ihm objektiv gegenüber. Ausdrücke wie aufrichtig sein, einen geraden Charakter haben und ähnliche weisen darauf hin, dass das Erleben der Aufrechten viele weitere Bezüge zum seelischen Erleben hat, als eine bloß physikalische Bedeutung. Im Vergleich der Formen 3 und 4 kann jeder, der sich nicht selber blockiert, diesen Bezügen nachgehen.

Wie erfassen wir Formen?

Die häufigste, aber naive Antwort wird heißen: Die sehe ich. Das kann offensichtlich nur die halbe Wahrheit sein, denn wäre das Formerfassen – wie die Farbwahrnehmung – mit dem Sehsinn notwendig verbunden, dürften Blinde keine Formen erfassen können. Das ist bekannterweise nicht der Fall. Was liegt also vor?

Zur Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, zwischen Sinnesorgan und Sinnesfunktion zu unterscheiden. Der Augapfel mit der zugehörigen Muskulatur, den entsprechenden Nerven und Blutgefäßen ist ein Sinnesorgan, das Träger sehr unterschiedlicher Sinnesfunktionen ist: Es ist wärmeempfindlich, tastempfindlich, farbwahrnehmend und nicht zuletzt ein motorisches Organ, dessen Bewegungen durch den kinästhetischen Sinn kontrolliert und gesteuert werden. Durch die motorische Tätigkeit der Parallaxe erfasst es wie mit Greifarmen die dritte Dimension.

Wie erfasst nun ein Blinder eine Form? Im Prinzip nicht anders als ein Sehender: Er umfährt mit seinen Händen tastend den Körper, erfasst also die Form durch eine Eigenbewegung.1 Sehende können sich das Abtasten mit den Händen sparen. Sie gleiten, geleitet durch die zielgerichtete Aufmerksamkeit (Intentionalität) auf einen Wahrnehmungsbereich mit dem Blick den Farb- und Helligkeitsdifferenzen eines Gegenstandes und seiner Umgebung entlang und nehmen über diesen Bewegungsvorgang die Form wahr.

Dabei kann ein fundamentaler Unterschied zwischen einer Farbwahrnehmung und dem Erfassen einer Form bewusst werden: Die Farbigkeit unserer Umgebung ist uns mehr oder weniger gegeben. Zum Erfassen einer Form müssen wir selber tätig werden. Überspitzt kann man sagen: Form ist für uns nicht da, wenn wir sie nicht durch eine Eigentätigkeit erzeugen.

Freies Formenzeichnen oder Grafikprogramme?

Selbstverständlich werden heute zahlreiche Programme angeboten, mit denen in kurzer Zeit unterschiedlichste Figuren erstellt, eingefärbt, verändert und neu zusammengestellt werden können. Wenn ich eine Form am Computer gezeichnet habe, ist es ein Leichtes, sie zu spiegeln, zu drehen oder sonst wie zu bearbeiten. Wenige Klicks genügen dafür, doch die Eigentätigkeit ist dabei deutlich reduziert.

Verschaffe Dir am besten durch eigene Tätigkeit dazu eine Erfahrungsgrundlage: Zeichne einige der Formen 5 bis 8 auf ein DIN-A4-Blatt möglichst sorgfältig ab und spiegele sie an der vertikalen gestrichelten Achse ohne weitere Hilfsmittel und beobachte Dich, wodurch Du es tust.

Mit einer zweiten oder dritten Klasse ausgeführt, können sich dabei – neben wunderbaren Ergebnissen – unterschiedliche Schwierigkeiten zeigen. Für den förderpädagogisch interessierten und geschulten Pädagogen sind gerade die Schwierigkeiten ein Hinweis auf notwendige Hilfen. Dabei geht es in erster Linie nicht darum, in kurzer Zeit durch irgendwelche Hilfsmittel bessere Ergebnisse zu erzielen, sondern die Ursachen für diese Schwierigkeiten zu erkennen. Das Formenzeichnen selber kann dabei wirksam therapeutisch eingesetzt werden.

Pädagogische Anmerkung

Jede unserer physischen oder mentalen Tätigkeiten hat Auswirkungen in zweierlei Richtungen: Es kann durch sie ein Produkt – auch in Form einer Dienstleistung oder der mentalen Lösung eines Problems – an die Außenwelt abgegeben werden. Sein Wert wird wesentlich für den Empfänger Bedeutung haben. Ebenso wirkt aber jede Tätigkeit auf denjenigen zurück, der sie ausgeübt hat, sei es, dass er seine körperliche Konstitution stärkt oder schwächt, sei es, dass er sich neue geistige Fähigkeiten aneignet.

Allgemeinbildende Schulen werden immer darauf zu achten haben, welche Rückwirkungen eine physische oder mentale Tätigkeit auf die Bildung der Gesamtkonstitution im weitesten Sinn des Kindes hat. Je jünger das Kind ist, desto mehr steht diese konstitutionelle Bildung im Vordergrund. Die von Schülern erzeugten »Produkte« (Aufsätze, Textübersetzungen, Lösungen von Aufgaben in der Mathematik, Stricken im textilen Werken usw.) haben in der Regel keine oder nur eine sehr geringe gesellschaftliche Bedeutung. Die Fähigkeitsentwicklung steht mit Recht im Vordergrund. Während es in einem Unternehmen in der Regel auf eine qualitativ annehmbare, rasche und preiswerte Befriedigung der Kundenwünsche ankommt, muss Schule die basalen Fähigkeiten der jungen Menschen entwickeln, die Grundlage aller anderen Tätigkeiten sind.

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine jüngst publizierte Langzeitstudie vom Mai 2021, in der als Ergebnisse zusammengefasst wird: »Early motor difficulties in preschool children had significant effects on their academic achievement and psychosocial maladaptation up until the sixth grade. Gross motor difficulties in preschool were associated with the later peer problems and worsened emotional symptoms.«2

Formenzeichnen ist gewiss kein Heilmittel für alle beobachtbaren Entwicklungsstörungen, es beugt aber in einer zunehmend bewegungsarmen Gesellschaft Fehlentwicklungen vor, die zu gravierenden Benachteiligungen in der späteren Biografie führen können. Konstitutionell betrachtet, schult das Formenzeichnen intensiv die Grob- und Feinmotorik, die Augen-Hand-Koordination, stärkt die Verbindung zwischen Gleichgewichts- und kinästhetischem Sinn und hat eine Fülle daraus sich ableitender Entwicklungen. So kann das häufig in der vierten Klasse gepflegte Zeichnen von Flechtbandmustern durch die Forderung, die zweidimensionale Zeichnung durch innere Aktivität dreidimensional zu sehen, als erster Schritt zur Ausbildung aktiver innerer Raumanschauung (Spatial intelligence3) betrachtet werden. Nicht um das Abmalen eines Bildes geht es dabei, sondern um das aktive Denken bzw. Vorstellen in der dritten Dimension und das Darstellen in zwei Dimensionen (Form 9). Unschwer wird man zugestehen können, dass nicht jede gezeichnete Form eine gleiche Wirkung in dem gekennzeichneten Sinne hat. Auch das Niederdrücken von Tasten ist eine motorische Aktivität. Vergleicht man sie aber beispielsweise mit dem Zeichnen der hier wiedergegebenen Formen, fällt ihre Bewegungsarmut unmittelbar auf.4

Formenzeichnen als künstlerische Schulung

Beschreibt man die Bedeutung des Formenzeichnens nur als Schulung der Grob- und Feinmotorik und einiger anderer Fähigkeiten, bleibt der bittere Geschmack einer Medizin mit zahlreichen Nebenwirkungen übrig. Formen erfassen, beschreiben, vergleichen, erinnern und zeichnen können lässt die pädagogisch immer notwendige Gefühlsbildung außer Acht. Mit welcher Hingabe und Freude färben die Schülerinnen und Schüler gelungene Zeichnungen. Lebt in der Lehrerin oder dem Lehrer ein Schönheitssinn für die Sprache der Formen, kann eine ganze Klasse eine gelungene neue Form mit großer Wärme begrüßen. Wird sie nach und nach aufgebaut, gelaufen, in der Luft groß gezeichnet und schließlich erst zart und dann immer kräftiger auf das Papier gebracht, durchweht ein freudiges Schaffen den ganzen Klassenraum. Die intellektuelle Blässe abstrakter Unterrichtstheorien fällt davor wie ein Strohfeuer in sich zusammen. (Siehe Form 10: Flechtbandmuster als Skizze für ein Geschmeide).

Man mag fragen, ob in einer emotional immer kälteren Welt Gefühlsbildung und Schönheitssinn noch sinnvoll gepflegt werden sollten. Ökonomisch betrachtet, ist auf jeden Fall die Fähigkeit, Formen ansprechend kreativ zu schaffen nicht bedeutungslos. Wie jeder weiß, spielt das Design eines Produktes bei der Kaufentscheidung eine wesentliche Rolle (Form 11 + 12).

Natürlich wird das Design für Industrieprodukte heute mit Computerhilfe entworfen und in der Fertigung umgesetzt, Kreativität hängt aber mit Fähigkeiten zusammen, die in frühen Entwicklungsphasen und im Zusammenhang mit sozialem Lernen gewonnen werden müssen. Der epidemische Deskilling-Effekt durch unproduktive Scheinfähigkeiten wurde schon vor Jahrzehnten beschrieben.5 Nicht Computerprogramme schaffen Innovationen, sondern Menschen, die die modernen Werkzeuge kreativ nutzen können! Bildung ist mehr als von Lernprogrammen gestellte Aufgaben im Sinn der vorgegebenen Möglichkeiten lösen zu können.6

Zum Autor: Dr. Ernst Schuberth, studierte Mathematik und Physik, war Klassen- und Oberstufenlehrer an der Rudolf-Steiner-Schule München. Berufung an die Pädagogische Hochschule Westfalen-Lippe bzw. Universität Bielefeld. 1978 Gründung der Freien Hochschule Mannheim. Weltweite Unterrichtstätigkeit und zahlreiche Publikationen zum Mathematikunterricht. www.ernstschuberth.de

1. Eine blinde Schülerin, die ich ab der elften Klasse zum Abitur vorzubereiten hatte, ließ sich von einer Mitschülerin alle Figuren in die Hand zeichnen. Sie erfasste, indem sie mit ihrer Aufmerksamkeit die wechselnden Tasteindrücke in ihrer Vorstellung verfolgte, die Figuren. Dies tun wir in gleicher Weise, wenn uns eine Form auf den Rücken gezeichnet wird. Wir haben es mit einer verinnerlichten Tätigkeit des kinästhetischen Sinnes zu tun. Abgelöst von allen äußeren Eindrücken vollziehen wir solche verinnerlichten Sinnestätigkeiten beispielsweise im Umgang mit geometrischen Formen auf dem Vorstellungstableau. Es ist diese Verinnerlichung der zweite Schritt zum eigentlichen Geometrisieren, bei dem Urteile (Theoreme, Sätze) über den Zusammenhang geometrischer Figuren gefällt werden.

2. Fine and gross motor skills predict later psychosocial maladaptation and academic achievement. In: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33558106/

3. https://www.thoughtco.com/spatial-intelligence-profile-8096

4. Für Kenner der Geometrie freier Kurven sind die auftretenden Singularitäten (Dornspitze, Schnabelspitze, Wendestelle et cetera) charakteristisch für unterschiedlichen Kurvenformen. Interessanterweise sind sie diejenigen Stellen, an denen Schülerinnen und Schüler häufig einen Zugewinn an motorischen Fähigkeiten erwerben können. Siehe dazu: Ernst Schuberth, Das Formenzeichnen als tätige Geometrie in den Klassen 1 bis 4, Stuttgart 32021

5. Zum Beispiel bei Walter Volpert: Zauberlehrlinge. Die gefährliche Liebe zum Computer, Weinheim 1985

6. Siehe auch die bemerkenswerten Hinweise in: Thomas Sattelberger und Sven Gábor Jánszky, 30. September 2021, https://www.capital.de/karriere/fuer-eine-kulturrevolution-der-bildung