Wer war Reineke Fuchs? Aus dem Französischunterricht der zweiten Klasse

Jessica Gube

Die zweite Klasse führt mit ihrer Klassenlehrerin ein szenisches Spiel auf, das im Hauptunterricht einstudiert wurde – Reineke Fuchs vor Gericht am Hof des Löwen, des Königs der Tiere. Munter und kraftvoll spielen die Kinder die Szenen des listigen Fuchses, der immer wieder alle zum Narren hält und seinen Kopf auch in heikelsten Situationen noch aus der Schlinge zieht.

Fabeln und Legenden sind Erzählstoff des Hauptunterrichts im zweiten Schuljahr. Während die Heiligenlegenden vom Blick des Menschen nach oben, von der Suche nach der himmlischen Welt erzählen, sprechen Fabeln von den vielfältigen Charaktereigenschaften und -schwächen der Menschen, die sie in tierische Hüllen kleiden. »Angewärmt« durch den Hauptunterricht, ist der Boden bestens bereitet für die Anknüpfung im Fremdsprachenunterricht.

Übergreifende Motive machen vernetzendes Lernen möglich

Im Fremdsprachenunterricht kann man im zweiten Schuljahr die Welt der Tiere in vielfältiger Weise aufgreifen. Auch die poetische Form fehlt da nicht. Insbesondere im Französischen stößt man fast unmittelbar auf die Fabeln von Jean de La Fontaine (1621-1695) und auf den »Roman de Renart«, zu Deutsch »Geschichten von Reineke Fuchs«. Sowohl La Fontaine wie auch Renart gehören zu den Klassikern des französischen Bildungskanons. Es gibt kaum einen jungen Menschen in Frankreich, der als Schüler nicht irgendwann eine der La Fontaine-Fabeln auswendig lernte. Meist werden sie noch Jahrzehnte später aus dem Stegreif erzählt. »Le corbeau et le renard«, Fuchs und Rabe, die sich um einen Käse streiten, den schließlich der Fuchs durch eine List erlangt, ist der Klassiker schlechthin. So fällt die Auswahl für den Französischunterricht in der zweiten Klasse nicht schwer. Über ein großes gemaltes Bild, das die Eingangssituation zeigt, ist im Unterricht ohne weitere Erklärungen sofort der Rahmen geschaffen, wird die Geschichte erzählt, der Wortschatz anschaulich. »Oh, das kennen wir, das ist ja Reineke Fuchs«, freuen sich die Kinder. Mit verdeutlichenden, humor­vollen Gesten und charakterisierendem Tonfall werden nun die zwei Tiere in immer wiederkehrenden Versen gesprochen und täglich wiederholt. Parallel zum spielerischen Auswendiglernen durch das häufige Tun gehen wir vor und nach der Geschichte in die freie, nicht gebundene Sprache. Wir beschreiben das Bild mit einfachem Wortschatz und stellen viele französische Fragen, die sich an die kleine Fabel anschließen können: Wer befindet sich wo, wer isst gern Käse, wer frisst was, wer lacht wen aus, wer ärgert sich, wer ist arm dran und vieles mehr. Die Kinder freuen sich mit dem listigen Fuchs und bedauern den armen Raben, der aber natürlich selbst Schuld hat an seiner Misere.

Vers und Bild am eigenen Leibe erleben – die Inszenierung

Besonders viel Freude macht es den Kindern, die Geschichte auch in Szene zu setzen. Der Rabe, schwarz angezogen, mit einem Plusterflügelkleid und einem großen Schnabel aus farbigem Karton, bekommt als Käse einen großen gelben Schwamm unter den Hals geklemmt. Er steht auf einem »Baum«, einer grün verhüllten Stehleiter, und schaut von oben herab auf den rot gekleideten Fuchs, der unten zwischen den Bäumen umherschleicht – die restliche Klasse, grün gekleidet als »Bäume«. Schon ist das Szenario da, und mehr ist nicht notwendig, um die Phantasie der Kinder und des Dichters ins rechte Licht zu rücken.– Alle kräftig mitsprechen! Auf die Figuren zeigen, die gerade an der Reihe sind! Nicht wegträumen! – Es wird als Klassenchor gesprochen und noch nicht einzeln. Alle sollen alles können. Das ist keine kleine Aufgabe. Auch wenn die Fabel nur drei Minuten dauert, erfordert dies schon eine ganze Reihe von Übsequenzen. Drei Wochen später: Bei der Aufführung auf der Bühne spüren die Kinder, wie das Publikum an den richtigen Stellen lacht und sind stolz und glücklich. Der große Applaus belohnt das Üben. Die Bilder, die innerlich bleiben, sind geronnene Erlebnisse, gesättigte Wirklichkeit. So fühlt sich gelebte Sprachkultur an, und gerade das möchte der frühe Fremdsprachenunterricht in der Waldorfschule vermitteln.

Vom Tun zum Begreifen

Auch ohne Erklärungen oder Querverweise kann die Spiegelung menschlicher Charaktereigenschaften und -schwächen in der Tiergeschichte ein fühlendes Verstehen, ein Empfinden für Moral bei den Kindern hervorrufen, das aus dem erlebenden Tun entsteht. Das menschliche Miteinander im sozialen Gefüge mit all den charakterlichen Facetten, die sich da zeigen, ist auch im Leben der Klasse eine konkrete Erfahrung. Geschichten vom »menschlichen Drama« in Tiergestalt bieten künstlerische Bilder, ohne erläutert werden zu müssen. Das kognitive Verstehen von Wortschatz, Redewendungen und Ausdrucksweise der französischen Sprache im Sinne des Fremdspracherwerbs ist eine weitere, mehr lernerische Ebene, die im Unterricht zunächst über Wiederholung, dann über Transfer geübt wird und den Grundsatz »Vom Tun und Erleben zum Begreifen« als pädagogischen Ansatz der Unterstufe verdeutlicht.

»Renart« – eine vielgestaltige, viel interpretierte Erscheinung

Wer war dieser Reineke, dieser »Renart«, eigentlich? An dieser Frage zeigt sich einmal mehr, wie die Welt so wunderbar zusammengefügt ist und unsere Kulturgüter aus vielen Nationen zusammenfließen.

Die ersten schriftlichen Spuren der Geschichten von »Renart« (übrigens aus dem mittelhochdeutschen »Reinhard« oder auch »Reginhard«, was in der ersten Silbe Rat und in der zweiten hart, stark, klar heißt, und in abgewandelter Form als Eigenname nach Frankreich gewandert ist) stammen aus dem Norden Frankreichs, wo sie zwischen 1040 und 1170 zunächst in Lothringen, dann noch etwas nördlicher auftauchen, weitgehend anonym, in bis zu 25 verschiedenen Handschriften. Jede Handschrift erzählt neue Episoden, die als »branches«, Verzweigungen der ersten Geschichte, die Zeiten überdauern. Von Frankreich aus sprang Renart über die Sprachgrenzen, gelangte ins Niederländische und 1498 in einer Lübecker Schrift auch ins Deutsche, um dann nach Skandinavien weiter zu wandern und schlussendlich Verbreitung in ganz Europa zu finden. Im ausgehenden Mittelalter geriet Renart etwas in Vergessenheit, wurde aber von den Gebrüdern Grimm, insbesondere von Jacob Grimm, wieder ans Tageslicht geholt. Später hat Goethe den Reineke in Hexameter-Form neu gefasst, und selbst im 20. und 21. Jahrhundert taucht er immer wieder auf, 1915 als Oper »Le renard« von Igor Strawinski, als Theaterstück 1987 am Hamburger Schauspielhaus oder auch als Kinderbuch 1962 von Janosch und als Kinder-Animationsfilm.

Der Fuchs schlechthin taucht in den Erzählungen der Menschen überall dort auf, wo er auch in der Natur beheimatet ist, also in Eurasien, Nordamerika und im Mittelmeerraum. Tiere als Botschafter menschlicher Charaktere lassen sich vom Abendland über Rom (Phaedrus) und Griechenland (Äsop) bis ins Morgenland nach Indien (Panchatantra) verfolgen.

Und schließlich: Das altfranzösische Wort für Fuchs (goupil) wurde nach dem Bekanntwerden des »Roman de Renart«, der sich rasch ungeheurer Beliebtheit erfreute, so stark in den Hintergrund gedrängt, dass schließlich Renart vom Eigennamen zur Vokabel für Fuchs wurde. Noch heute heißt Fuchs auf Französisch renard.

Das alles wissen die Kinder aus der zweiten. Klasse natürlich nicht. Aber sie erleben die tiefe Wahrheit der Volksweisheit im Bild und im künstlerischen Tun. Und – wer weiß? Vielleicht gab es irgendwo, irgendwann wirklich einmal einen unerschrockenen, klugen Adligen namens Renart, der weder Himmel noch Hölle fürchtete und so beeindruckend war, dass er Zeiten und Räume überdauerte?

Zur Autorin: Jessica Gube ist Französischlehrerin der Waldorfschule Ostholstein.