Wirtschaftsgeografie in der elften Klasse

Ekkehard Spieler

Ist dieses kleine Beispiel ein Einzelfall oder ein Mosaiksteinchen des symptomatischen Nichtwissens über einfache wirtschaftliche Sachverhalte? »Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen« – so twitterte eine 17-jährige Schülerin vor drei Jahren und löste damit eine bundesweite Debatte über Schulen und Bildungsinhalte aus.

An der Heilbronner Waldorfschule unterrichte ich seit nunmehr sieben Jahren in der elften Klasse die Epoche »Wirtschaftsgeografie«. Unsere Schüler schätzen diese Epoche sehr. »Endlich lernen wir mal etwas, was wir im praktischen Leben anwenden können« – so die Meinung der meisten. Und sie bedauern, dass es nur zwei Wochen sind, in denen sie wirtschaftlichen Fragestellungen nachgehen – sie würden gerne länger an diesen Themen arbeiten.

Der legendäre Seefahrer und Polarforscher Sir Ernes Shackleton überlebte vor hundert Jahren mit seinen siebenundzwanzig Männern unter widrigsten Bedingungen viele Monate am Südpol, nachdem sein Schiff vom Packeis zermalmt worden war. Wir schauen uns diese Geschichte an und fragen: »Was braucht der Mensch zum Leben?« Gemeinsam erarbeiten wir, was er wirklich braucht – oder was er zu brauchen glaubt. Schnell kommen wir zu der Frage, welche Bedürfnisse mit welcher Priorität befriedigt werden wollen. Und so sind wir beim Thema »Wirtschaft«. Alles, was wir uns kaufen, alle Dienstleistungen, die wir in Anspruch nehmen, werden von der Wirtschaft zur Verfügung gestellt. Der Stuhl, auf dem wir sitzen, der Tisch, an dem wir schreiben, die Tafel und die Kreide, die wir nutzen, das Gebäude, in dem wir lernen, das Smartphone, mit dem wir kommunizieren, die Musik, die wir hören, das Brot, das wir essen – alles wurde einmal von irgend jemandem »hergestellt«. Sich dies bewusst zu machen und darüber nachzudenken, welche Zusammenarbeit zwischen Menschen erforderlich war, dass der Stuhl, auf dem wir sitzen, hier steht – allein das ist schon eine spannende Gedankenübung.

Wenn ich die Schüler frage, wer schon einmal bei H&M eingekauft hat, gehen alle Hände in die Höhe. Wie kann es sein, dass bei H&M ein T-Shirt für nur fünf Euro angeboten wird? Nun sind wir beim Thema Globalisierung. Wir schauen auf der Basis eines Zeitungsartikels auf den Entstehungsprozess des Fünf-Euro-T-Shirts. Wie kommt dieser Preis zustande? Wie hoch sind die Transportkosten, warum sind sie so niedrig? Wieviel bleibt an Gewinn für die Firma H&M übrig? Ist die Näherin Nazma in Bangladesch mit einem Verdienst von zwei Euro am Tag eine Verliererin der Globalisierung oder eine Gewinnerin?

Und wir fragen uns: Warum verdient ein Busfahrer in Deutschland so viel mehr als ein Busfahrer in Bangladesch, obwohl er genau dieselbe Tätigkeit ausübt? In kleinen Gruppen erarbeiten die Schüler ihre Überlegungen hierzu. Schnell wird offensichtlich: Es wird viel geraten und spekuliert, eine präzise Antwort hat keiner. Wir sind nun beim Thema Produktivität und Bruttoinlandsprodukt (BIP). Warum ist dies in Deutschland so hoch? Hier kommt der Arbeitsteilung große Bedeutung zu – worin liegen die Vorteile, worin die Nachteile? Gemeinsam spüren wir auch der internationalen arbeitsteiligen Wirtschaft nach.

Eine weitere Frage, die wir uns erarbeiten: Wer entscheidet darüber, wer all die hergestellten Güter und angebotenen Dienstleistungen bekommt? Nun sind wir beim Thema Verteilung. Wie funktioniert die Verteilung genau? Wie funktionieren die Marktmechanismen, was passiert, wenn das Angebot, was, wenn die Nachfrage steigt, wie kommen die Preise zustande? Könnten sich die Eisdielen in Heilbronn gemeinsam auf den Preis einer Kugel Eis verständigen, oder könnten die Bäcker in Heilbronn vereinbaren, künftig für ihre Brezeln alle einen Euro zu verlangen? Dies führt uns zu den gesetzlichen Regelungen, die für die Wirtschaft gelten: Schutzgesetze für Verbraucher, wie zum Beispiel das Kartellgesetz, Schutzgesetze für Arbeitnehmer wie das Arbeitszeitgesetz.

Am Beispiel des Brötchenverkaufs in der großen Pause durch die Schüler einer Klasse spielen wir die wirtschaftlichen Grundzusammenhänge durch. Hier wird sichtbar: Umsatz und Gewinn sind nicht dasselbe, man benötigt Kapital (und wenn auch nur im Kleinen), um mit so einem Geschäft beginnen zu können, man braucht Arbeitskräfte und einen Einkauf, Fragen der Verwendung des Überschusses müssen entschieden werden. Viele Grundstrukturen, die es im Großen in unserer kapitalistischen Wirtschaft gibt, kann man am Beispiel des Brötchenverkaufs veranschaulichen – bis hin zur Struktur einer Aktiengesellschaft.

Zur Halbzeit frage ich die Klasse, welche Themen sie gerne noch bearbeitet haben möchte. Schnell wird klar, dass die zwei Wochen allenfalls für ein oberflächliches Behandeln dieser zahlreichen und vielfältigen Themenwünsche reichen – von Fragen zu Steuern, zum Aktienmarkt, und immer wieder auch das Thema »Was ist ein gerechter Lohn?« Ist es gerecht, wenn ein Fußball- oder Schauspielerstar viele Millionen im Jahr verdient, während eine Krankenschwester von 1.600 Euro im Monat leben muss? Die bittere Erkenntnis: Die Höhe der Einkommen hat wenig mit Gerechtigkeit und viel mit Marktmechanismen zu tun.

Mir ist es ein Anliegen, dass die Schüler elementare Grundzusammenhänge einfacher wirtschaftlicher Sachverhalte verstehen lernen. Erst im zweiten Schritt kann dann eine Urteilsbildung erfolgen. Und mir ist wichtig, die Schüler dazu zu bringen, selbstständig und vielschichtig nachzudenken und nicht einfach plakative Einstellungen oder Vorurteile unreflektiert wiederzugeben. So werden die Auswirkungen der Globalisierung meist kritisch bis negativ wahrgenommen. Schaut man aber etwas genauer hin und fragt, wer genau die Gewinner und wer die Verlierer sind, wird deutlich: Einfache Antworten gibt es nicht. Die Näherin in Bangladesch mit ihrem dürftigen Verdienst kann sich plötzlich Bedürfnisse befriedigen, die sie vorher nicht befriedigen konnte. Oder Millionen Chinesen können sich im Zuge der Industrialisierung und Globalisierung inzwischen selbstständig ernähren, während noch vor einigen Jahrzehnten Millionen verhungert sind.

Am letzten Tag schreiben die Schüler einen Test. Meist reicht die Stunde, die dafür vorgesehen ist, nicht aus, alles das zu Papier zu bringen, was sie zu den Fragen in den letzten zwei Wochen gelernt haben.

Abschluss und Höhepunkt: Die Klasse erhält den Auftrag, ein H&M-T-Shirt einem der Schüler zuzuteilen; wenn der Preis bzw. der Marktmechanismus nicht zur Verteilung zur Verfügung steht, nach welchen Kriterien kann sonst noch verteilt werden? Gut, dass wir auch über die verschiedenen Gerechtigkeitskriterien gesprochen haben, nach denen knappe Güter verteilt werden können.

Zum Autor: Ekkehard Spieler ist seit zwanzig Jahren Geschäftsführer an der Freien Waldorfschule Heilbronn