Peripherie

Wie Schule zu mehr Menschlichkeit beitragen kann

Cornelie Unger-Leistner

»Wann wird auch der Zeitpunkt kommen, wo es nur Menschen geben wird…?« Prof. Carlo Willmann vom Zentrum für Kultur und Pädagogik in Wien zitiert aus einem Brief des 24jährigen Ludwig van Beethoven. Als Vorsitzender von INASTE spricht er zur Eröffnung des Kongresses.

Rund 150 Personen aus zwölf Ländern sind zum Kongress des International Network for Academic Steiner Teacher Education (INASTE) angereist, an dem über 30 Wissenschaftler:innen aus ihrer Arbeit vortragen. Alle Teilnehmer:innen sind sichtlich froh, dass sie sich – nach coronabedingter zweimaliger Verschiebung – in Präsenz treffen und austauschen können. Tagungsort ist die Diplomatische Akademie in Wien. Als das INASTE-Vorbereitungsteam 2019 den Titel des Kongresses – »Realizing Humanity« formulierte, konnte es nicht ahnen, wieviel Aktualität er bis heute durch Corona und den Kriegsausbruch in der Ukraine dazugewinnen würde. Wie kaum je zuvor steht die Gefährdung des Menschseins auf der Tagesordnung – durch Technologie, Gesellschaft aber auch durch rechtspopulistische, antidemokratische Tendenzen, wie Prof. Leonhard Weiss aus Wien, ein Mitorganisator des Kongresses, zu Beginn der Tagung feststellte.

Zurück zu Beethoven: Er war eher pessimistisch und sagte voraus, dass Jahrhunderte vergehen würden, bis die Menschen sich gegenseitig »als Menschen« wahrnehmen könnten, ohne einen Unterschied zu machen hinsichtlich Religion, Ethnie oder Geschlecht. Die beim INASTE-Kongress versammelten Pädagog:innen aus so vielen Teilen der Welt sind optimistischer, gehen sie doch alle davon aus, , dass das pädagogische Handeln dazu beitragen kann, mehr Verständnis zwischen den Menschen und damit Menschlichkeit und Frieden in der Welt zu ermöglichen. Aber wie müssen Schulen arbeiten, wie ihre Lehrer:innen ausgebildet sein, damit dieses hohe Ziel verwirklicht werden kann?

»Das Potenzial in der Erziehung liegt in der Teilhabe, in der Einsicht, dass wir alle verbunden sind und einen gemeinsamen Raum teilen auf dieser Erde, daraus können wir ein gemeinsames Ziel für die Erziehung in der ganzen Welt aufbauen«, führt Constanza Kaliks, Leiterin der Pädagogischen Sektion an der Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach aus. Die Hauptgefahr unserer Zeit, die auch in der Pandemie deutlich sichtbar geworden sei, sieht sie im Verlust von Verbundenheit – zu sich selbst, zum anderen und zur Natur. Sie stellt die Frage, wie Hoffnung und der Wille zum Leben entwickelt werden können, auch wenn rundum alles dunkel und schwierig erscheine. Unter Einbeziehung von Denkern wie Emmanuel Lévinas und Paolo Freire zeichnet sie ein Menschenbild, das auf gegenseitiger Wahrnehmung und Respekt beruht. Es sei der »andere in seinem Anderssein«, der uns die Möglichkeit gebe, Mensch zu werden, zitiert sie Lévinas. Auch Rudolf Steiner habe in seiner Philosophie der Freiheit diesem Gesichtspunkt höchste Priorität eingeräumt. Für die Pädagogik bedeute es, das Kind willkommen zu heißen, ihm Respekt und Wärme entgegenzubringen. Unter den Bedingungen der Pandemie der vergangenen drei Jahre sei das eine große Herausforderung für Eltern und Pädagog:innen gewesen. Die UNESCO habe aus der Pandemie die Konsequenz gezogen, dass Erziehung müsse neu gedacht werden müsse – »Reimagine Education«, so der Titel einer Publikation.

Dr. Jens Beljan von der Friedrich-Schiller-Universität Jena stellt in seinem Vortrag den von Hartmut Rosa entwickelten Resonanzbegriff vor, der den aus der Physik entlehnten Begriff im sozialen Raum fruchtbar macht und so eine ganze Reihe von Bedingungen für das Gelingen pädagogischer Prozesse benennt. Resonanzpädagogik gehe von der Wechselwirkung zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen aus, die auf Komponenten wie Berührtsein, Wertschätzung, intrinsischer Erfahrung und emotionaler Offenheit beruhe. Fehlten diese Bedingungen, komme es zur gegenseitigen Entfremdung. Werde dagegen die Sehnsucht der Schüler:innen nach Berührung, nach Wahrnehmung erfüllt, entstehe ein Raum für die Förderung von Humanität, Verantwortung und Solidarität.

Beljan zeigt in seinem Vortrag auf, wie die Bildungssysteme weltweit aufgrund ökonomischer Überlegungen immer weiter von den Idealen der Beziehung und der Resonanz abgewichen sind. Der Sputnikschock im Jahr 1957 habe zur Befürchtung geführt, die Sowjetunion werde gegenüber dem Westen eine technologische Überlegenheit erlangen, deswegen seien unter Federführung der OECD die Bildungssysteme transformiert worden, um das westliche »Humankapital« zu fördern. Durch die Transformation habe man sich von der Bildungsidee Humboldts abgewandt. Bildung sei nur noch unter der Perspektive von Effizienz und Effektivität betrachtet worden, wovon die PISA-Studien Zeugnis ablegten.

In den anschließenden Diskussionen werden die Anknüpfungspunkte zwischen Waldorf- und Resonanzpädagogik deutlich – ein gutes Beispiel für den fruchtbaren Dialog mit anderen pädagogischen Ansätzen und sicherlich auch ein wichtiges Qualitätsmerkmal von INASTE.

Gefährdungen durch Mediennutzung untersucht dann Prof. Matthias Jeuken von der Freien Hochschule Stuttgart in seinem Beitrag zu leiblichen und seelischen Veränderungen bei Kindern und Jugendlichen. Studien zufolge führt intensive Mediennutzung zu einer Verminderung des inneren Antriebs, einer Verschlechterung des Selbstbildes und dem Verlust der Empathiefähigkeit. Die »generation look at me« laufe Gefahr, Fähigkeiten des Zusammenlebens gar nicht erst zu entwickeln, so Jeuken. Abhilfe sieht der Eurythmieprofessor unter anderem in der von ihm vertretenen Disziplin des »belebten Turnens«, die geeignet sei, die Schüler:innen wieder in Einklang mit dem eigenen Körper zu bringen.

In einem internationalen Netzwerk der Waldorflehrerbildung darf das Thema des Umgangs mit anderen Kulturen nicht fehlen. Es ist Dr. Ida Oberman, die Leiterin der Community School für Creative Education (CSCE) in Oakland/Kalifornien, die in ihrem Bericht über ihre Schule in den USA mahnende Worte einfließen lässt, die Waldorfpädagogik müsse Ernst machen mit der Förderung benachteiligter Schüler z.B. mit Migrationshintergrund. Das sei schließlich die Intention von Emil Molt bei der Gründung der ersten Waldorfschule auf der Stuttgarter Uhlandshöhe gewesen. In der staatlich finanzierten Gemeinschaftsschule für Kreative Erziehung erhalten die Kinder von Migranten eine Förderung auf waldorfpädagogischer Basis – Dr. Oberman zeigt anhand verschiedener Preise und Auszeichnungen die Erfolge auf, die mit diesem Konzept erzielt werden konnten.

Die Frage nach der Einbeziehung anderer Kulturen und ihrer Werte auf der Basis gegenseitigen Respekts kommt auch in anderen Konferenzbeiträgen zum Ausdruck. Der in Mosambik geborene Prof. Jose Cossa von der Universität Maryland stellt in seinem Vortrag die Ubuntu-Weisheit dem westlichen Konzept des individualistischen Humanismus gegenüber. Ubuntu sei gekennzeichnet von der Verbundenheit mit Gott und der Idee, dass der Mensch immer den anderen brauche, um sich selbst zu verwirklichen. Cossa warnt davor, anderen Kulturen die eigenen philosophischen Konzepte überzustülpen.

Im Vortrag von Prof. Michael Zech von der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter geht es um die Frage, inwieweit nationalstaatliche Herangehensweisen im Geschichtsunterricht und kulturelle Hierarchisierungen in einer Migrationsgesellschaft noch angemessen sind. Im Anschluss wird intensiv darüber diskutiert, ob man nicht Menschenrechtsverstöße zum Beispiel im LGTB-Bereich auch deutlich als solche benennen müsse – ohne Rücksicht auf die Ansichten anderer Kulturen. Die INASTE-Konferenz zeigt auch hier, dass die Waldorfwelt durchaus diskursfreudig sein und es auch kontrovers zugehen kann.

Weitere Themen des Kongresses waren Klimawandel und Schule (Professor Henning Schluß von der Universität Wien), Geflüchtete an Waldorfschulen (Dr. Larissa Beckel vom Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität der Alanus Hochschule in Mannheim), und in vielen Beiträgen das ganzheitliche Konzept der Naturwissenschaften, Leistungsmessung ohne Diskriminierung, Handlungspädagogik und verschiedene Forschungsprojekte zur Generation Z oder auch zur Sinnesentwicklung im Laufe der Geschichte. Auch ging es um die Notwendigkeit vorurteilsfreier Wahrnehmung als Voraussetzung von Inklusion.

INASTE-Kongresse finden alle zwei Jahre statt, das Netzwerk widmet sich der Heranbildung künftiger Waldorflehrer. Eine neue Generation soll herangebildet werden, die »kreativ, verantwortlich und offen« ist, wie es in der INASTE-Broschüre heißt.

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