Backen blewen!

Henning Kullak-Ublick

Och, lütt Hein mag nich mehr lewen.
He is wedder backen blewen.
Scheef de Böker ünnern Arm
steit he mank den Kinnerswarm:
Backen blewen!

Swor dat Hart, so swor vun Truern
slikt he lurig lank de Muern,
sett he langsam Been vör Been,
fangt he lisen an to ween’n.

Jungedi! Wat weert för n Lewen!
Weer he bloot,
weer he bloot
nich backen blewen!

Dieses plattdeutsche Gedicht von Hermann Claudius ist fast hundert Jahre alt. Damals gab es noch keine Waldorfschulen, und die Erkenntnis, dass das Sitzenbleiben mehr über die Dummheit eines Schulsystems als über die eines sitzengebliebenen Schülers verrät, stand noch aus. Die Neuro­wissenschaft hat inzwischen längst erkannt, dass Angst, Stress und Druck die denkbar schlech­testen Vorbedingungen für Lernen und Wissensvermittlung sind. Wir lernen eben niemals nur mit dem Kopf, sondern immer auch mit dem Herzen, und während wir den gelernten Stoff meist schnell wieder vergessen, bleibt das mit dem Lernen verbundene Gefühl bestehen und bestimmt in hohem Maße, ob wir das Lernen im weiteren Leben als Last oder als Tor zur Freiheit erleben. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2009 weist nach, dass das Sitzenbleiben keinerlei sinnvolle pädagogische Wirkung hat und auch jenen Schülern nicht hilft, die dadurch angeblich von ihren leistungsschwächeren Mitschülern entlastet werden.

Umso bemerkenswerter, dass der deutsche Lehrerverband das Sitzenbleiben vehement verteidigt. Verbandspräsident Josef Kraus bezeichnete in der »Bild am Sonntag« die in einigen Bundesländern diskutierte Abschaffung des Sitzenbleibens sogar als »pädagogischen Unsinn«.  Seine Begründung: »Gäbe es gar kein Durchfallen mehr, würde sich ein noch größerer Anteil von Schülern überhaupt nicht mehr anstrengen wollen, und das Leistungsniveau vieler Klassen würde sinken. Eine Abschaffung des Sitzenbleibens käme einem Recht auf Wohlfühlschule mit Abiturvollkaskoanspruch gleich.«  Wer so argumentiert, sagt nichts anderes, als dass er unsere Schulen und die in ihnen tätigen  Lehrer für so unfähig hält, dass sie ihre Schüler nur mit Angst und Auslese dazu bringen können zu lernen. Angesichts von 250.000 Sitzenbleibern und den alljährlich zur Zeugnisvergabe eingerichteten Telefonhotlines, die Schülerselbstmorde verhindern sollen, ist das blanker Zynismus und die vollständige Kapitulation vor der eigentlichen Aufgabe der Schule: Jungen Menschen dabei zu helfen, die Welt in ihrem Reichtum, ihrer Vielfalt, ihrer Schönheit und ihren unendlich vielen Aufgaben zu entdecken und sich schrittweise dazu zu befähigen, ihre individuelle Lebensaufgabe zu ergreifen. Wenn unsere Schulen das nicht können, müssen wir sie – und uns – ändern!

Denken Sie daran, wenn Ihr Kind in diesem Jahr sein Zeugnis nach Hause bringt: Ein »gutes« Zeugnis macht Mut, weil sich Ihr Kind in dem, was es geleistet hat, erkannt fühlen darf. Auf dieser Grundlage kann es auch einsehen, welche Schwächen es noch überwinden muss. Geht es Ihnen anders?

PS: Die durch das Sitzenbleiben verursachten Zusatzkosten entziehen den Schulen in jedem Jahr fast eine Milliarde Euro. Die sollten wir lieber in die individuelle Förderung der Schüler stecken.

Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, seit 1984 Klassenlehrer in Flensburg, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)