Heiner Ullrich gilt in der Erziehungswissenschaft seit Jahren als der Kenner der Waldorfpädagogik. Das aktuell vorgelegte Buch wird wohl für die nächsten Jahre als erziehungswissenschaftliches Standardwerk, als Orientierung über die Waldorfpädagogik für Wissenschaftler, Studierende und die gebildete Öffentlichkeit betrachtet werden. Man findet darin Ullrichs bereits bekannte, strikt ablehnende Haltung gegenüber den Erkenntnisgrundlagen der Waldorfpädagogik wieder.
Wer vom Autor neue Einsichten und Erkenntnisse erwartet, wird enttäuscht sein. Erstaunlich ist jedoch, dass Ullrich die Waldorfschulen trotzdem als Erfolgsmodell darstellt und ihre Praxis anerkennt. Ullrich fasst seine ambivalente Sicht in den Worten: »beeindruckende Praxis und dubiose Theorie« zusammen – eine Aussage, die in erziehungswissenschaftlichen Kreisen nicht selten zu vernehmen ist.
Da frage ich mich, wie jemand, der die Welt nicht versteht (»dubiose Theorie«), in der Welt doch richtig handelt (»beeindruckende Praxis«)? Lag Steiner völlig daneben? Oder müssen die Waldorfpädagogen sich Vorwürfe machen, wie schlecht sie ihre Theorien seit Jahrzehnten darstellen, so dass sie falsch und unhaltbar erscheinen?
Oder ist dieses Paradoxon nicht ein Zeugnis für den Mainstream der Erziehungswissenschaft selbst, die sich schwer tut, den Zusammenhang der Theorie und der sozialen und pädagogischen Praxis aufgrund ihrer abstrakt und materialistisch gewordenen Begrifflichkeiten zu erfassen? Ist es nicht die besondere Schwachstelle vieler erziehungswissenschaftlicher Konzepte, dass sie zwar als Theorien glänzen, in ihrer Umsetzung aber meist kümmerlich sind? Berührt hier vielleicht Ullrich unbewusst das zentrale Motiv der Waldorfpädagogik, die als Erziehungskunst spezifische Erkenntnisgrundlagen braucht, damit sie eine »beeindruckende Praxis« vorweisen kann? Wer so wie Ullrich denkt, kann anscheinend den anthroposophischen Grundlagen der Waldorfpädagogik prinzipiell nicht den Status einer »wissenschaftlich abgesicherten« Theorie zugestehen.
Das muss aber nicht an der Theorie liegen: Der Grund kann auch das jeweilige Verständnis von Wissenschaft sein. Wie der Erziehungswissenschaftler Harm Paschen formuliert: »Nicht die interne Wissenschaftlichkeit irgendeiner Theorie legitimiert … ein pädagogisches Konzept, sondern seine pädagogische Leistung«. Der Satz macht deutlich, dass in praxisorientierten Wissenschaften die Theorie allein nicht der Maßstab der Validität sein kann. Vielmehr muss stets auch untersucht werden, wie eine pädagogische Leistung entsteht, wie die Theorie in die Praxis umgesetzt wird.
Der Philosoph und Pädagoge Nida-Rümelin hat neulich geschrieben: »Es gibt keine Trennung zwischen Theorie und Praxis, keine von Werten und Fakten. Stattdessen: Die Dinge sind so eng miteinander verwoben, dass jeder Versuch der Trennung geradewegs in die Ideologie führt.«
Die Wissenschaftlichkeit der Waldorfpädagogik beruht nicht auf der Wissenschaftlichkeit ihrer theoretischen Grundlagen allein, sondern auf der Fruchtbarkeit dieser Theorie für die pädagogische Praxis und ihrer Umsetzung in konkrete Leistungen.
Diesen Zusammenhang weiter zu erforschen, darin liegt ein wesentlicher Teil unserer Aufgaben in der Zukunft.