Natascha Kampusch war Opfer einer der längsten Entführungen der jüngeren Geschichte. Nach mehr als acht Jahren konnte sie sich als 18jährige im Jahr 2006 selbst befreien.
Sie schreibt am Ende ihres beeindruckenden Buches: »Mit diesem Buch habe ich versucht, das bisher längste und dunkelste Kapitel meines Lebens abzuschließen. Ich bin zutiefst erleichtert, dass ich für all das Unaussprechliche, Widersprüchliche, Worte gefunden habe ... Denn das, was ich erlebt habe, gibt mir auch Stärke: Ich habe die Gefangenschaft im Verlies überlebt, mich selbst befreit und bin aufrecht geblieben.«
Neben den vielen, den Leser sehr bedrückenden Schilderungen, die von Misshandlungen durch den psychisch gestörten Täter erzählen, hat mich immer wieder beeindruckt, wie die noch sehr junge Autorin ihre Lage und die Verhaltensweisen in der Gefangenschaft genau analysieren kann. Was half ihr, die acht Jahre zu überleben? Ihre Großmutter hatte ihr gezeigt, wie man sich in einer Welt, die keine Gefühle zulässt, Räume für dieselben schaffen kann. Diese Räume, die ihr sicherlich das Leben gerettet haben, waren dann nach ihrer Befreiung zunächst gar nicht so leicht zu öffnen. Sie hatte ihre Gefühle über Jahre in ein Verlies weggesperrt.
Nachvollziehbar schildert Frau Kampusch, wie ihr Leben durch den Täter bedroht war und gleichzeitig von ihm abhing. So berührt es den Leser, wenn sie schildert, wie er mit ihr »Mensch ärgere dich nicht!« und andere Gesellschaftsspiele spielte, Weihnachten feierte, zwei Wohnungen ausbaute und später sogar Einkäufe machte. Der Täter wollte einen Menschen heranziehen, der vollkommen auf ihn fixiert war. Je älter und kräftiger Natascha wurde, desto stärker schwächte er sie einerseits durch gezielten Nahrungsentzug, der sie als 16jährige nahe an den Hungertod brachte und andererseits durch körperliche Misshandlungen.
Äußerst berührend war für mich die Schilderung einer Nacht, in der sie als 12jähriges Mädchen auf einer Zeitreise ihrem 18jährigen Ich begegnet, das sie tröstet und mit dem sie einen Vertrag schließt, der ihre Befreiung vorwegnimmt. Trotz schwierigster Phasen in den folgenden sechs Jahren, voll tiefer Krisen und Selbstmordversuche, kann sie sich immer wieder an dieser Vision festhalten und schreibt kurz nach ihrem 18. Geburtstag: »Ich war nun erwachsen, mein zweites Ich hielt mich fest in der Hand, und ich wusste genau: So wollte ich nicht weiterleben. Ich hatte die Zeit der Jugend als Sklavin, Punchingball, Putzfrau und Gefährtin des Entführers überlebt ... Aber nun war diese Zeit vorüber.« Sie findet die Kraft sich in einem Moment der Unaufmerksamkeit des Täters zu befreien.
Trotz ihrer Extrem-Erfahrung ist Natascha Kampusch überzeugt, dass es keinen nur bösen Menschen gibt. »Auch das personifizierte Böse hat ein menschliches Antlitz.« Sie kann ein sehr differenziertes Bild des Täters geben, der ihr immer wieder sein menschliches Wesen zeigte. Sie ist der Überzeugung, dass wir alle »durch unseren Kontakt mit der Welt, mit anderen Menschen, zu dem werden, was wir sind« und insofern alle die Verantwortung dafür tragen, was in unserem Umfeld passiert.
Wenn man anhand dieser Biografie mitvollzieht, wie die Entwicklung eines Menschen vom elften bis neunzehnten Lebensjahr verläuft, die nur von einer Bezugsperson direkt abhängig war, kann man sich nur vor der Individualität, die das mitgemacht hat, bewundernd verbeugen, und dankbar sein, teilhaben zu dürfen, ohne direkt betroffen zu sein. Ich hoffe, dass viele Menschen sich nach der Lektüre dafür einsetzen, Kindern und Jugendlichen eine andere Jugend zu ermöglichen.
Natascha Kampusch: 3096 Tage, List Verlag, 284 Seiten 19,95 Euro