Begegnung mit »Barbarossa«

Andreas Heertsch

Ich arbeitete als Strömungsphysiker im Max-Planck-Institut Göttingen. Dort flutete ich ein größeres Labor, was der darunterliegenden Elektronik-Werkstatt einen Kalk­regen aus der Decke bescherte. Das brachte mir den Spitznamen »Katastrophen-Heertsch« ein; es sollte mein erster und letzter anthroposophischer Versuch an diesem Institut sein. Ich hatte die im Folgenden beschriebene Lektion im Umgang mit Elementarwesen noch nicht gelernt. 

Einbildungsverbote müssen übertreten werden 

In meinem Physikstudium habe ich gelernt, dass Einbildungen nichts mit Wissenschaft zu tun haben, Messungen sind ausschlaggebend für Sein oder Nicht-Sein. Ich habe 25 Jahre gebraucht, um zu bemerken, wie ich das, was ich durch das Studium der Werke Rudolf Steiners längst »wusste«, in der Wirklichkeit nur finden kann, wenn ich dieses »Einbildungsverbot« übertrete. Und ich traf andere, die das ebenfalls taten. So begann ich, genauer zu untersuchen, was ich bisher zwar bemerkte, aber immer als bloße Einbildung abgetan hatte. 

Spricht da jemand? 

Als ich vor einigen Jahren im Großen Saal des Goethe­anums in Dornach einer Mysteriendramen-Aufführung Rudolf Steiners beiwohnte, begann, bevor sich der Vorhang öffnete, in einiger Entfernung von mir ein Wecker elektronische Pieptöne von sich zu geben. Erschrockenes Rascheln der Besitzerin bis das Piepen verstummte. Die Szene begann. Nach einigen Minuten ertönte allerdings das Piepen erneut. Wiederholtes Rascheln, diesmal mit mehr Erfolg: das Gerät blieb stumm. Um mich ärgerliches Schweigen. Man sah möglichst konzentriert auf die Bühne und tat so, als ob nichts gewesen sei.

Beim zweiten Piepen hatte ich aber den mich überraschenden, doch untrüglichen Eindruck, dass jemand sprach. – Ich war zwar verwundert, fühlte aber die innere Bereitschaft, mich auf den Fragenden einzulassen, ja, um der spürbaren Anwesenheit dieses Wesens Genüge zu leisten, hielt ich meinen Arm als kleine Bank bereit, und prompt setzte sich ein Männlein darauf und sah mich mit großen Augen an. Ich begann ihm zu erklären: »Das ist jetzt gar nicht der richtige Moment, in dem du rufst!« Verdutzt hörte der Kleine zu und – seine Aufmerksamkeit ausnutzend – erklärte ich ihm: »Wir Menschen sehen hier ein wichtiges Schauspiel; da geht es darum, wie Menschen lernen können, dass sie deine Welt auch sehen.« Das Männlein zwinkerte dankbar mit den Augen und schwupp, war es von meinem Arm verschwunden.

Diese kleine Geschichte läuft Gefahr, beim Leser einen völlig falschen Eindruck zu erwecken. Nicht, dass es das »Männlein« nicht gab, auch »saß« es natürlich auf meinem Arm, aber es hatte kein Gewicht und war ganz und gar unsichtbar. Für offene Gemüter mag diese Geschichte noch als witzig, aber doch etwas versponnen durchgehen, aber für den wissenschaftlichen Verstand muss sie als völlig irrational und indiskutabel gelten, weil nicht deutlich ist, welchen Realitätsgrad das »Männlein« eigentlich hat. Deshalb sei dieses Ereignis nochmals bewusstseinsmäßig analysiert. 

Einen Versuch ist es wert 

Nach dem zweiten Piepen hatte ich also einen Eindruck, den ich, in Worte gefasst, so wiedergeben würde: »Hallo! Warum hört mich keiner.« Aber diese Worte sind nur der sprach­liche Ausdruck, um mich dem Leser mitzuteilen; tatsächlich waren akustisch keine Worte zu hören. Ich könnte meine Wahrnehmung auch ganz anders beschreiben, etwa: Ich bemerkte, jemand schwenkt ein rotes Fähnlein. Der Eindruck selbst war für mich überraschend. Ich war eigentlich auf die beginnende Szene konzentriert, anschließend auch bereit, in das allgemeine »Unverschämtheit, einen Wecker piepen zu lassen!« meiner Umgebung einzustimmen. Um diesen Eindruck zu verstärken, habe ich mir versuchsweise vorgestellt, es säße der »kleine Störenfried« auf meinem Arm. Natürlich gab es da nichts zu sehen. Weiter habe ich mir vorgestellt: Wenn er da wirklich säße, was hätte ich ihm dann zu sagen? Dies erzählte ich ihm dann auch, so wie man sonst sich innerlich etwas erzählt, wenn man sich über etwas Gedanken macht.

Seine Größe entsprach der Bedeutung des Geschehens: Er war klein, weil ich die Episode selbst als »nebensächlich« einstufte und weil sein Verhalten mir keinen »gewaltigen«, sondern eher einen lausbubenhaften Eindruck machte. Es sollte einige Jahre dauern, bis ich merkte, dass die Kleinheit meine Zugabe war, und ich mir manches erspart hätte, wenn ich richtig übersetzt hätte: »Warum übersiehst Du mich immer?« Denn er hat mich über so manches stolpern lassen, ohne dass ich auf die Idee gekommen wäre, dass meine Pechsträhnen im Umgang mit Maschinen seine Art waren, mich dazu zu bringen, ihn in mein Arbeitsleben aufzunehmen. Schließlich entschloss ich mich – wohlgemerkt versuchsweise – anzunehmen, dass es ihn »wirklich« gibt, dass also diese Pechsträhnen eine gemeinsame Ursache haben könnten. 

Barbarossa kommt ins Klassenzimmer 

Da ich gelesen hatte, dass solche Maschinenwesen gern mit kleinen Kindern zusammen sind und Geschichten hören, ging ich in einen Laden, der für Kinder schöne Zwerge verkaufte. Meine Frau unterrichtet in den unteren Klassen, sie sollte ihn als physische Repräsentation in den Unterricht mitnehmen. Im Laden wollte ich sehen, ob mir irgend etwas ins Auge fällt. Das war nicht der Fall, und ich war bereit, alles als Spinnerei abzutun. Bevor ich den Laden verließ, fiel mein Auge auf einen Zwerg: »Der ist es!«, wusste ich nun. Es war nicht nur der Teuerste. Er war sündhaft teuer! So einen hätte ich sonst nie gekauft – reine Verschwendung. Dieser Zwerg kam nun in die Schulstube, und wir verabredeten, dass das Kind, das ihn als erstes entdeckt, ihm einen Namen geben darf. Sein Name war Barbarossa. 

Ein Zwerg erzog zur Gründlichkeit 

Nun begann ich, wenn ich mit meiner Arbeit nicht vorwärts kam, mich mit ihm ins Benehmen zu setzen. Seinen Schabernack fasste ich jetzt als Aufforderung zur Aufmerksamkeit für ihn auf. Und da war er manchmal unersättlich: Schrauben, die zu Boden fielen und sich erst finden ließen, nachdem ich ihm meine Aufwartung gemacht hatte. So ging das einige Jahre – er erzog mich zur Gründlichkeit. Schließlich zog er sich zurück. Vermutlich durch eine Unachtsamkeit von mir habe ich ihm kein gutes Ende bereitet. 

Hinter den Bildern stehen Wesen 

Dem Leser wird aufgefallen sein, dass ich kaum von Bildern von Barbarossa schreibe. Auch der gekaufte Zwerg hat nur »Denkmal-Charakter«. Es ist nicht das Wesen selbst, aber eine solche Imitation kann Menschen helfen, Wesenswirkungen zu bemerken. Die Wesen stellen sich dann ihrerseits darauf ein. Bilder sind aber nur Hilfsmittel, um sich der Eindrücke bewusst zu werden. Sie haben mit dem Wesen so viel und so wenig zu tun, wie die Schrift dieses Textes mit dem durch sie ausgedrückten Sinn. Die Bilder wollen immer gelesen werden. Wer sie nicht als Schrift versteht, läuft Gefahr das (zunächst) weitgehend selbst gemachte Bild für das Wesen selbst zu halten. Wenn wie Sie jetzt beim Lesen darauf achten, ob die Schrift, in der dieser Text verfasst ist, Serifen hat, werden Sie vom gemeinten Sinn abgelenkt. So kann man mit den entstehenden Bildern auch umgehen: Sie als Schrift betrachten, die Schrift »übersehen«, um auf ihren Sinn blicken zu können. 

Wenn die Computer streiken 

Offenbar wünschen sich diese Wesen immer wieder die menschliche Aufmerksamkeit. In meinem Betrieb bin ich für eine Reihe Computer zuständig. Ich selbst bin beim Programmieren und anderen Arbeiten am eigenen Computer immer wieder Schabernack ausgeliefert: Ich habe zwei Stunden einen Text für eine Zeitung korrigiert, bin fertig, lehne mich entspannt zurück – und trete mit dem Fuss gegen den Reset-Knopf des Computers, der daraufhin alles vergisst, auch die zwei Stunden Arbeit! Gellende Schadenfreude um mich her, mir bleibt nichts anderes übrig, als mitzulachen.

Die Computer meiner Kollegen sind ebenfalls »launisch«: Sie versagen den Dienst, bis ich komme. Gewöhnlich muss ich mich nur davorsetzen, ein, zwei Handgriffe machen und alles läuft wie vorher. Mitunter gelingt es dem Kollegen nicht einmal, den Fehler zu demonstrieren, da es schon funk­tioniert. Mittlerweile haben alle akzeptiert, wenn ich dann sage, die wollen mich nur mal wieder sehen. 

Man braucht ein goldenes Händchen 

Die Welt elementarischer Wesen ist vielfältig. Da gibt es beispielsweise Wesen, die genau wissen, wie die Welt sein muss. Sie wirken oft in den Einfällen, die wir haben. Dass führt dann dazu, dass diese Einfälle mit »Alleinvertretungsanspruch« auftreten: »Es geht nur so!« Sensitive Menschen sind mitunter in Gefahr, diese Wesen als Orakel zu befragen und versuchen, die erhaltene Antwort ohne Rücksicht auf Verluste umzusetzen. In der Welt der Maschinen wird eine solche naive Haltung glücklicherweise korrigiert: Es funktioniert dann eben nicht! Im Sozialen dagegen gibt es die sich selbst erfüllenden Prophezeiungen: Irrtümer werden sozial zerstörerische Wirklichkeit. Ich bemerkte, dass diese Wesen erzogen sein wollen: Mit Liebe zur Sache und exaktem Arbeiten entsteht ein freundliches Verhältnis. Das führt dazu, dass die »Schabernack-

Häufigkeit« abnimmt und sich der Kampf mit der »Tücke des Objekts« in ein kollegiales Miteinander verwandelt. Auch auf dem Gebiet der Maschinen gibt es etwas – wir nennen es »goldene Hände«, was dem »grünen Daumen« eines Gärtners vergleichbar ist. Diese »Hände« sind nicht nur Ausdruck einer Begabung, sondern drücken das gute Verhältnis zur elementarischen Welt aus. Die Elementarwesen sind dem Menschen nicht feindlich gesonnen, aber sie wollen und brauchen seine Aufmerksamkeit. Wenn sie die nicht bekommen, dann kann das ärgerliche Folgen haben … 

Literatur:

Andreas Heertsch, Geistige Erfahrung im Alltag, Stuttgart 2007 (eine Besprechung des Buches finden Sie hier

Zum Autor: Dr. Andreas Heertsch, Strömungsphysiker, anthroposophisches Studien- und Forschungsjahr am Goetheanum in Dornach, dann in der Krebsforschung in Arlesheim (Iscador®), Unternehmer einer kleinen Firma, die Thermometer für medizinische Zwecke produziert.