Behinderte Intelligenz?

Johannes Denger

Keine Ahnung, wie es heute ist. Ich nehme an, dass ich durch die Erosion des Lebens etwas dümmer geworden bin, was aber, wie man hofft, wenn man älter wird, durch die dazu gewonnenen Erfahrungen in etwa ausgeglichen sein dürfte. Neulich habe ich die Aufgaben im Taschenbuch zum großen SPIEGEL-Wissenstest gelöst. Ergebnis: Ich gehöre diesbezüglich zu den oberen zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland. So, jetzt entscheiden Sie

Was hier als kleine kokette Eröffnung dient, die Offen­barung des eigenen Intelligenzquotienten, kann für Menschen mit einer »geistigen Behinderung« einer lebens- länglichen Verurteilung gleich kommen. Die Verteilung der Intelligenz in der Bevölkerung entspricht – Überraschung! – einer »bell curve«, einer Gauß’schen Verteilungs- kurve in Glockenform: Es gibt wenige Niedrigintelligente, viele durchschnittlich Intelligente und wenige Hochintelligente. Das liegt aber nur am Maßstab und sagt zunächst gar nichts aus.

Wenn man zum Beispiel die Länge aller deutschen Nasen messen würde, käme vermutlich eine sehr ähnliche Kurve heraus. Die Frage ist, wie kommt man zu einem ähnlich objektiven Kriterium wie es die Länge in Zentimetern ist – und vor allem: was schließt man daraus? Des Weiteren, für die Betroffenen von existentieller Bedeutung: Wie weit wird der Begriff der Normalität (»normal range«) ausgedehnt? Bin ich noch innerhalb der Norm oder schon außerhalb?

Ein schönes Beispiel hierfür finden wir bei der Beurteilung dessen, welche Formen von Sexualität als normal gelten. Was vor einigen Jahrzehnten noch als abartig und unnormal galt, wie etwa Homosexualität (mit existenziellen Konsequenzen für die betreffenden Menschen), gehört heute zum »normal range«. Geändert hat sich die Einstellung.

Jeder Mensch ist, wie er ist

Woher kommt das Bedürfnis, die Intelligenz der Menschen zu messen und einzuteilen? Ist das eher intelligent oder eher dumm? Jeder Mensch ist so, wie er ist. Seine Fähigkeiten und Unfähigkeiten teilen sich den anderen durch seine Äußerungen und Taten in der Begegnung mit. Gerade wenn jemand im Randbereich der Niedrigintelligenz ist, braucht es kein ihm umgehängtes Schild, das darüber aufklärt. Es scheint einen schwer kontrollierbaren Drang zu geben, Dinge (und leider eben auch Menschen) zu sortieren und zu katalogisieren.

Noch in den 1970er Jahren wurden die Patienten in der großen psychiatrischen Universitätsklinik, in der ich meine Ausbildung zum Psychiatriepfleger begonnen hatte, streng sortiert: Nach Geschlecht, nach Alter, nach Krankheitsbildern und teilweise eben nach Intelligenz. Das »Männer F« war die ›Oligophrenen‹-Station (IQ unter 70) und galt als das Sibirien innerhalb der Klinik. Viel wurde über die Zustände dort gemunkelt. (Ich lernte sie von innen kennen, weil ich von »Männer B«, einer Altersabteilung, strafversetzt wurde, denn ich hatte einen kritischen Artikel in der Pflegeschülerzeitung über das Leben der Alten zwischen Bett und Topfstuhl geschrieben.) Eine unglaubliche Idee, alle diese Menschen mit ihren schwierigsten Voraussetzungen wie zum Beispiel extremer Mikrocephalie in einer Abteilung zusammenzufassen, in einem Schlafsaal mit über 20 Betten: Bett, Topfstuhl, Bett, Topfstuhl und die Wände zur einfachen Reinigung auf einen Meter achtzig hoch gefließt.

Man unterscheidet in dem Zusammenhang von Intelligenz und geistiger Behinderung heute: leichte geistige Behinderung  (IQ 50-55 bis ca. 70), früher als »Debilität« bezeichnet; mittelschwere geistige Behinderung (IQ 35-40 bis 50-55), früher »Imbezillität«; schwere geistige Behinderung (IQ 20-25 bis 35-40) früher »ausgeprägte Imbezillität«; schwerste geistige Behinderung (IQ unter 20 oder 25), früher »Idiotie«. Oder nach der ICD-10 Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation leichte Intelligenzminderung (IQ 50–69), mittelgradige Intelligenzminderung (IQ 35–49), schwere Intelligenzminderung (IQ 20–34), schwerste Intelligenzminderung (IQ < 20). Das kann also vermittels Tests festgestellt werden. Nur, was ist dadurch gewonnen?

Es gibt mehr als eine Intelligenz

»Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst«, besagt das bekannte Aperçu des Harvard-Psychologen Edwin G. Boring. Howard Gardner geht in seiner Kritik an den Intelligenztests, die vorwiegend die logisch-mathematischen und die sprachlichen Fähigkeiten testen, noch einen Schritt weiter: »Nahezu alle Entwicklungspsychologen gingen wie selbstverständlich davon aus, dass wissenschaftliches Denken und die Laufbahn eines Wissenschaftlers den Gipfel oder die Vollendung der geistigen Entwicklung des Menschen darstellen, das heißt: Menschen mit voll entwickelten geistigen Fähigkeiten denken wie Wissenschaftler – genauer, wie die Art von Menschen, die Entwicklungs­psychologie oder (besser noch!) Teilchenphysik oder Molekularbiologie studieren. Es ist dies nicht das erste Mal in der Geschichte der Wissenschaften, dass den Gelehrten im Spiegel ihres Faches ihr eigenes Bild erscheint. Dasselbe egozentrische Denken liegt auch der Erfindung unserer heutigen Intelligenztests zu Grunde.«

Gardner unterscheidet in seinem Werk »Intelligenzen«, an dem er schon seit Jahrzehnten arbeitet und das er immer wieder erweitert, folgende Bereiche: die sprachliche Intelligenz, die logisch-mathe­matische Intelligenz, die musikalische Intelligenz, die bildlich-räumliche Intelligenz, die körperlich-kinästhetische Intelligenz, die interpersonale Intelligenz, die intrapersonale Intelligenz, die naturkund­liche Intelligenz und die Lebensintelligenz oder spirituelle Intelligenz.

Wenn auch hier nicht der Platz ist, diese Bereiche näher auszuführen (die Lektüre des Buches lohnt sich!), so macht doch schon die kurze Nennung deutlich, dass der erweiterte Gardnersche Intelligenzbegriff den Menschen in seiner Vielfalt erfasst und daher auch Bereiche würdigt, in denen gerade Menschen mit einer so genannten geistigen Behinderung besondere Fähigkeiten zeigen können. So gibt es etwa Menschen mit Autismus, die nicht nur eine verblüffende logisch-mathematische Stärke zeigen, sondern auch solche mit geradezu genialen körperlich-kinästhetischen Fähigkeiten, etwa im Balancieren. Der eher mit beschei­denem Intelligenzquotienten gesegnete Junge mit Down-Syndrom, mit dem ich in meiner Ausbildung zum Heil­- pädagogen öfter die Freizeit gestaltete, war interpersonal hochbegabt: »Wie goots dig? Bis du truurig?«, fragte er sofort, wenn mich etwas bedrückte. Ich denke an jenen Jungen mit dem großen Kopf, der oft mit schmerzverzerrtem Gesicht in der von uns musikalischen Laien mit Hingabe gegebenen Abendmusik saß, weil er das absolute Gehör hatte – und wir leider nicht ... Ebenso von hoher musikalischer Intelligenz war das nicht sprechende, sich nicht aufrichten könnende Mädchen ohne Augenanlage. Sie war jedem Intelligenztest schlicht unzugänglich, aber in gehörter Musik und deren harmonisch-rhythmischen Strukturen konnte sie durch Bewegung vollkommen aufgehen. Oder die beiden Jungen, der Sprache mächtig, die ich in meinem ersten Praktikum begleiten durfte und die beide immer wieder eine originelle Intelligenz zeigten! Als ich mit ihnen im Freibad zum Schwimmen war, sagte der eine: »Oh, wenn das jetzt Fanta wäre, statt Wasser, das wäre lecker …!«

Darauf der andere: »Ja, im Nichtschwimmerbecken Fanta und bei den Schwimmern Bier!« – Er war es auch, der nicht nur klug, sondern geradezu weise sein konnte. Auf einer kleinen Wanderung warnte ich ihn davor, die von ihm gewählte Abkürzung zu nehmen, weil er sonst auf den Felsen ausrutschen und hinfallen könnte. Er nahm die Abkürzung, rutschte aus und fiel hin. »Mensch«, sagte er verdrossen, als ich ihn erreicht hatte, »du hast immer recht!« »Ach nein«, antwortete ich, »sicher nicht immer.« »Siehst du«, rief er, »jetzt hast du schon wieder recht gehabt!«

Intelligenz kommt von »Sondern«

Die Anerkennung und Förderung der Vielfalt der Intelligenzen, beim anderen und bei mir selbst (!), ist für eine umfassende Begegnung mit jedem Menschen – ob mit oder ohne Behinderung – von großer Bedeutung. Die Waldorf­pädagogik und andere verwandte methodisch-didaktische Ansätze, die durch die Künste auch jene Bereiche fördern, die über die logisch-mathematischen und sprachlichen Intelligenzen hinausgehen, haben hier ein Pfund, mit dem sie wuchern können. Das sollte aber keineswegs zu einer Geringschätzung der beiden letztgenannten Intelligenzen führen! Ihnen verdanken wir als Menschen sehr viel. Das Problem sind nicht sie, sondern ihre einseitige Ausprägung und Bewertung.

Man darf mit Michel Foucault vermuten, dass historisch die Trennung zwischen Vernunft und Unvernunft im Mittelalter noch nicht so radikal vollzogen war wie heute. Aus einem umfassenderen, mehr mythologischen Bewusstsein heraus, in dem noch viele Lebensformen Platz fanden, hat sich durch das Heraufdämmern der Vernunft in der Aufklärung und die Vorherrschaft des Intellektes in der naturwissenschaftlich-technischen Zeit diese Kluft immer mehr vertieft. Bewusst und unbewusst wurden Maßstäbe, Parameter eingeführt, anhand derer der Einzelne sich und der Welt beweisen musste, dass er normal ist und dazu gehört.

Das Problem der errichteten Bewusstseinsbarriere liegt aber noch eine Schicht tiefer: »Intelligenz« heißt eigentlich »zwischen etwas wählen« können. Das Sondern ist der Gestus des Erkennens schlechthin. Wir sind durch unsere Erkenntniskonstitution auf Unterscheidung angewiesen. Die Frage ist, ob uns die Diskrimination unter der Hand zur Diskriminierung, also die Unterscheidung zur Herabsetzung gerät, oder ob wir nach der Sonderung das Auseinander­genommene auch wieder zusammenschauen und so erst zu wirklicher Erkenntnis kommen können. Schaue ich auf den anderen Menschen nur mit dem sondernden Blick, so manche ich ihn zum Objekt – und sei es zum Objekt meiner Fürsorge. Die Sonderung muss durch Begegnungskunst immer neu geheilt und überwunden werden.

Durch diese dialogische Art der Zuwendung erhält der Intellekt seine ursprüngliche Bedeutung wieder – aus lateinisch »intellectus«: »das Innewerden, die Wahrnehmung, geistige Einsicht, Erkenntnis …« So können wir im Erkenntnisakt dem anderen Menschen mit und ohne Behinderung gerecht werden, aber auch der Intelligenz selber. Aus ihrer kalten, reduzierten Abstraktion erlöst, kann sie uns in Licht und Wärme mit den anderen Menschen und der Welt verbinden.

Zum Autor: Johannes Denger ist Heilpädagoge und Waldorflehrer, Referent für Bildung, Ethik und Öffentlichkeit des Verbandes für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e.V., sowie Redakteur der Verbands-Zeitschrift PUNKT UND KREIS.

Literatur:

Howard Gardner: Intelligenzen. Die Vielfalt des menschlichen Geistes, Stuttgart 2008

Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1977

Johannes Denger: Von der Behinderung des Denkens über Menschen mit Behinderung, in: Wolfgang Schmidt, Holger Wilms: Die Mitte woanders. Leben und arbeiten mit außergewöhnlichen Menschen, Stuttgart 2008