Berlin begegnet Bilbao. Neue Ansätze in der Architektur-Epoche der 12. Klasse

Anett Zeplin

»Der Leitsatz ›Form follows function‹ wird seinen ursprünglichen Sinn für das Bauen nur erhalten, wenn die ›Funktion‹ der Architektur nicht im abstrakten physikalischen, sondern im sinnvoll erlebten Raum gesucht wird.« Diese von Wulf Schneider in seinem Buch »Sinn und Un-Sinn. Architektur und Design sinnlich erlebbar gestalten« geäußerte Satz macht deutlich, dass neben geschichtlichen, statischen und sozialen Aspekten, vor allem auch das Erleben von Architektur mit allen Sinnen und die sich daraus ergebende Verantwortung des Architekten für den Menschen, der seine Architektur betritt, erlebt und nutzt, wichtig sind. Der Mensch steht mit seinem ganzen Wesen, mit seinen Denk-, Fühl- und Willenskräften, der Architektur gegenüber. Die Aktivitäten des Menschen im Bezug zum Raum fasst Wulf Schneider wie folgt zusammen: »Durch das Denken steht das Ich erkennend in der Welt. Innen- und Außenwelt werden ihm zum Objekt ideeller Erfahrung.

Durch das Fühlen erlebt das Ich sich seelisch auf die Welt bezogen, indem es die soziale gegenständliche Welt als Teil seiner selbst erlebt.

Im Wollen stellt sich das Ich der gegenständlichen und sozialen Welt handelnd und verändernd gegenüber.« Im Schulalltag unserer schnelllebigen Zeit sind es speziell die basalen Sinne, denen in Bezug zur Architektur eine besondere Rolle zukommt. Sie werden von uns am wenigsten bewusst wahrgenommen, sind aber eng mit unserer Willensbildung verbunden. Schneider bezeichnet sie als die willensbetonten Sinne, das heißt auf die Architektur bezogen, als die Sinne des Handlungsraumes und ordnet ihnen den Tastsinn, den Bewegungssinn, den Gleichgewichtssinn und den Lebenssinn zu. Im Vergleich zweier Gebäude aus der Arbeit mit den Schülern sollen hier einige Aspekte der angeführten Sinne des Handlungsraumes betrachtet werden.

Architektur erleben: Freie Waldorfschule Berlin Mitte und das Guggenheim Museum Bilbao

Unser Schulgebäude, erbaut in drei Bauabschnitten (I. 1949-50, Rudolf Ulrich; II./III. 1951-54, Gerhard Eichler, Ilse Erlach), öffnet sich mit seinen Räumen über große Fenster zum Innenhof und kehrt dadurch der lauten, hektischen Mitte Berlins den Rücken zu. Über Gruppenarbeiten zu Fragen nach der Verbindung von innen und außen, nach der Gestalt des Grundrisses und den Materialien sowie nach der Anordnung der Wege und Räume erfassen und erleben die Schüler die klare Ordnung, die Ausrichtung der Räume, die Ruhe und den Lichteinfall als positiv, die langen Wege und die damit verbundene geringe visuelle Abwechslung dagegen zumeist als negativ.

Das Guggenheim Museum Bilbao, erbaut 1993-1997 von Frank O. Gehry, liegt ebenfalls mitten in der Stadt am Fluss Nervión. Durch seine Lage ist es aus vielen Richtungen weit sichtbar und fällt durch seine bewegte Außenfassade auf, die sich stadtseitig zu klaren kubischen Blöcken in Natursteinoptik und wasserseitig zu einem schuppenartig geformten Gebilde entwickelt. Im Inneren überrascht es durch die differenzierten Raumformen.

In der Erstbegegnung mit dem Museum sollte der Dekonstruktivismus und im Anschluss daran anhand eines selbst gewählten Beispiels das Zusammenspiel von Architektur und Kunstwerk untersucht werden. Eine Schülerin formuliert: »Dekonstruktivismus ist Baukunst ohne Regeln. Linien und Bögen, Kreis und Quader, Glas und Stein werden miteinander verknüpft: Der Mensch fühlt sich verwirrt und verloren, aber auch angeregt und der Forscherdrang wird geweckt. Der Mensch wird durch die Gänge geleitet. Man kann viel suchen und viel finden, aber gerade Linien und Wände, gerade Gänge und überschaubare Räume gehören nicht dazu. Man findet genau das Gegenteil: Ein Besuch im Inneren eines Organs, ein Gang im Schneckenhaus.«

Über die Auswertung der Gebäude durch die Schüler wird nicht nur deren Verschiedenheit in der Bewältigung ihrer Aufgabe als Schule und Museum deutlich, sondern auch die unterschiedlichen Sinneserfahrungen, die die Gebäude in ihrer Gestaltung ermöglichen. Die willensbetonten Sinne, die den in der Schüleräußerung erwähnten, durch die Architektur geweckten Forscherdrang unterstützen, sollen nun näher betrachtet werden. Der Tastsinn entspricht dem ursprünglichen Bedürfnis nach Berührung. Laut Schneider kennzeichnet er die Urpolarität von Da-Sein und Leer-Sein.

Tasten können wir durch die Haut, aber auch durch die Augen unterstützen, das heißt, wir nehmen Oberflächenbeschaffenheiten, Farbe, ihren Auftrag und Hell-Dunkel tastend wahr. Ist ein Raum mit glatten, glänzenden Böden und dazu vielleicht noch mit glatt verputzten und mit Ölfarbe dicht versiegelten Wänden versehen, macht er uns müde. Er fordert nicht zum wachen Erleben oder Beschreiten auf. Auf nichts muss man beim Laufen achten, es kann »vor sich hingetrottet« werden. Das ist leider in den Fluren unserer Schule oft zu beobachten. Der Bewegungssinn ist an unser Lauferlebnis gebunden. Ein nur gerade verlaufender und eintöniger Weg ermüdet schnell. Verschafft uns der Weg aber verschiedene Eindrücke, zum Beispiel durch Licht oder bewegte Formen, wirkt er auf uns und unsere Bewegung anregend. So ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass die Schüler im Guggenheim Museum Bilbao ein wenig das Gefühl für Zeit und Raum vergessen und nicht müde in ihrem Entdeckerdrang sind.

Der Gleichgewichtssinn hat nach Schneider die Urpolarität von Abweichung und Ausrichtung. Er hängt mit unserer Aufrichtekraft und den mit ihr verbundenen Körperachsen, den horizontalen und vertikalen, zusammen. Ein Gebäude, das ständig das Auswägen der eigenen Mitte herausfordert, spricht den Menschen in seiner Aufrichtekraft an. Er ist gezwungen, sich zu orientieren, sich immer wieder neu aus- und aufzurichten und die gegebene Situation abzuwägen. Der Goldene Schnitt sowie die Entwicklung der Kontrapoststellung in der Plastik stehen gleichsam als Symbol für das Halten des Menschen aus seiner eigenen inneren Waage heraus.

Der Lebenssinn im Zusammenhang mit der Architektur wird für die Schüler beim Anheben eines schweren Steins deutlich. Beobachten sie dabei den Umschlagpunkt zwischen Heben und Stemmen, das heißt dem Tragen und Lasten, erleben sie seine Lage im Goldenen Schnitt ihres Körpers. Einen ausgeprägten Sinn für die ausgewogenen auf- und abbauenden Kräfte bewiesen die alten Griechen beim Bau ihrer Tempel, die sie der Kurvatur, das heißt der leichten Wölbung der Erdoberfläche, entsprechend des Stufenunterbaus anpassten. Frank Gehrys Gebäude fordern den Besucher immer wieder neu heraus, sei es durch die überdimensional wirkenden Dachsteine der Megalithen, sei es durch die klar geformten und dabei die Schwere nicht vermittelnde Architektur der Ägypter – und unerwartet ist das Kräfteverhältnis im Lot. In der Formensprache ähneln beide Gebäude der Krummen und der Geraden. Stehen diese Formen gleichsam für statische wie ästhetische Grundgesten, geben sie in der Entwicklung des Menschen das Bild der Aufrichtekraft.

Unsere Erstklässler führen die Krumme und Gerade als erste Übung im Formenzeichnen aus und vollziehen dabei deren seelische Qualitäten, unterstützt durch die Wahl der Farben. Der Vertikalen müssen sie im Zeichnen gleichsam ihrer Aufrichtekraft, ihren Gleichgewichtssinn entgegenbringen. Mit ihm wägen sie die geforderte Richtung ab. Die Krumme orientiert sich nach innen und außen in die Umgebung. Sie zu zeichnen, fordert den inneren Willen heraus, da nun die Linienführung abgewogen, geformt und orientiert werden muss. Diese erste Formenzeichenübung ist ein treffendes Bild für den Zusammenhang von Raum und Mensch. So wie die Erstklässler sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit, ihrem Denken, Fühlen und Wollen dieser Übung zur Krummen und Geraden gegenüberstellen, fordert uns die Auseinandersetzung mit der Architektur in der gesamten Persönlichkeit heraus. Bei beiden Architekturbeispielen steht die Frage des Zusammenhangs zwischen Form, Konstruktion und Nutzung in enger Verbindung mit dem Erleben durch den Menschen. Durch das bewusste Hinterfragen der Ausdruckskraft und Wirkung der Architektur auf den Menschen werden die Wahrnehmungs- und Urteilskräfte gestärkt und ein Verständnis für die Verantwortung des Bauenden entwickelt.

Architektonische Verantwortung

Diese Verantwortung und die damit verbundene Herausforderung des Architekten gegenüber dem Menschen drückt der Konzeptkünstler Daniel Buren in Bezug auf Frank O. Gehrys Aussage, »dass sich das Museum ganz zurücknehmen und eine schlichte Box sein sollte, in der die Künstler machen können, was sie wollen«, besonders deutlich aus: »Sollten Sie sich selbst einmal mit so etwas befassen, dann machen Sie das beste Gebäude, zu dem Sie imstande sind. Ein einfacher neutraler Raum wäre, glaube ich, das Schlimmste, was man machen kann. Wozu denn auch?«

Auch wenn Burens Äußerung sich hier auf den Bau eines Museums bezieht, hat sie etwas Allgemeingültiges. Sie verdeutlicht die Vielschichtigkeit der durch den Architekten zu beachtenden Aspekte beim Bau. Ort, Form, Material, Konstruktion sollen mit einem vielfältigen Erleben des Raumes durch den Menschen zusammenspielen. Jede neue Aufgabe muss demzufolge den Architekten immer wieder neu in ihrer Besonderheit herausfordern. Die Schüler erfahren durch ihre bewusste Begegnung mit Architektur über ihre Sinne im Zusammenhang mit den Fragen nach der Aufgabe und ihrer technischen Ausführung, welch große Verantwortung in der Bewältigung einer jeden Bauaufgabe steckt und wie wichtig es ist, sich der Architektur mit seiner ganzen Persönlichkeit zu öffnen.

Zur Autorin: Anett Zeplin ist Kunstlehrerin an der Freien Waldorfschule Berlin Mitte

Literatur: Wulf Schneider: Sinn und Un-Sinn; Architektur und Design sinnlich erlebbar gestalten. Leinfelden-Echterdingen 1995 | Coosje van Bruggen: Frank O. Gehry. Guggenheim Museum Bilbao. Eine Publikation des Solomon R. Guggenheim Museums, New York, Ostfildern-Ruit 1997 | Johannes W. Rohen: Morphologie des menschlichen Körpers. Entwurf einer goetheanistischen Gestaltlehre des Menschen, Stuttgart 2007 | Ernst Schuberth: Das Formenzeichnen als tätige Geometrie in den Klassen 1-4. Stuttgart 2008 | Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, Dornach 1980