Beziehung durch Erziehung

Stefan Grosse

Es kann nicht Aufgabe des Pädagogen sein, Beziehung per se zu pflegen. Dort, wo ich solche Tendenzen wahrgenommen habe, ist es mir nicht leichtgefallen, das Objektive, das Klare, das Freilassende und Unbelastete zu entdecken. Pädagogik hat den Auftrag, durch Inhalte zu erziehen und dadurch Beziehung zu bilden. Also eigentlich müsste der Satz richtig heißen: »Beziehung entsteht durch Erziehung«. Erziehung ist, wie allgemein bekannt, nicht Dressur und nicht Konditionierung, sondern Seelenbildung. Und Seelenbildung geschieht in der Pädagogik ganz allgemein und an Waldorfschulen in besonderem Maße durch Inhalte, durch das Heran­bilden von Bewusstsein, von Vorstellungen. An Waldorfschulen in besonderem Maße deshalb, weil bei ihnen verstärkt auf die sorgfältige Auswahl bestimmter Inhalte für bestimmte Alters­stufen Wert gelegt wird.

So trifft beispielsweise die Behandlung einer Figur wie Kolumbus, der nicht mehr nur aus Erfahrung und Anschauung handelt, sondern einem Gedanken, den er als wahr erkannt hat, vertraut, auf das erwachende, logische und selbstständig werdende Denken des 13-Jährigen, der an diesem Geschichtsbeispiel eine Antwort auf seine latente Frage, ob man denn dem Denken vertrauen könne, erhält. Das ist Seelenbildung durch Erziehung und inhaltsvolle Beziehungspflege. Es ist das Schicksal oder die Lebensaufgabe des Pädagogen, dass er seine Beziehung zum Schüler vorrangig dadurch zu gestalten hat, dass er über das Vorstellungs­leben, über das Bewusstmachen, letztlich über Inhalte, Seelenbildung vollzieht.

Fügt man diese Inhalte über die Jahre aneinander, erhält man das zwölfjährige Bildungsprogramm oder den Lehrplan der Waldorfschulen. Ausführlich und sorgfältig ist er in dem Buch Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule beschrieben (erhältlich über www.waldorfbuch.de oder überall im Buchhandel). Den Eltern an unseren Schulen möchte ich dieses Werk ans Herz legen. Es beschreibt genau, welche Inhalte wann und warum vermittelt werden und führt so zu einem verständigen Begleiten der Erziehung und Seelen­bildung durch Inhalte.

Stefan Grosse ist Klassen- und Religionslehrer an der FWS Esslingen und Mitglied des Vorstandes des Bundes der Freien Waldorfschulen.