Bilder erzählen – Erzählen verstehen

Nach der Schulzeit in Stuttgart engagierte sich Birgit Philipp in der Sozialarbeit mit Jugendlichen. Dann entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Literatur, angeregt zuerst durch einen politisch-feministischen Buchladen, dann in der anthroposophischen Buchhandlung Engel. Dort begann ihre Suche nach einem ganz eigenen Verhältnis zur Anthroposophie Rudolf Steiners. Es folgten Wanderjahre. Zuerst ging es nach Berlin – ihre Lieblingsstadt –, wo sie ebenfalls in einer anthroposophischen Buchhandlung arbeitete. In Hamburg fand sie schließlich in der Rudolf Steiner-Buchhandlung ihren idealen Wirkensort.

Dort gibt es Raum über zwei Etagen, viele Bücher, Spielsachen, Farben und Mineralien. Das Café lädt zum Verweilen und zu Gesprächen ein. Veranstaltungen, Lesungen, Konzerte und Feste ergänzen das Angebot.

Oft sind die Kunden auf der Suche nach guter Literatur für sich, ihre Kinder oder als Geschenk, lassen sich beraten und anregen. Meist erst im Gespräch entwickeln sich die Fragen, die den Kunden auf dem Herzen liegen. Birgit Phillipp sieht die Buchhandlung als einen Begegnungs- und Kulturraum, der sich immer neu bildet durch das, was die Menschen bewegt und worüber sie sich austauschen möchten, ganz im Sinne von Goethes »Märchen«: »Was ist herrlicher als Gold?«, fragte der König. »Das Licht«, antwortete die Schlange. »Was ist erquicklicher als Licht?«, fragte jener. »Das Gespräch«, antwortete diese.

Erziehungskunst | Wie versteht das kleine Kind die Welt und welche Rolle spielen Bilder dabei?

Birgit Philipp | Es versteht die Welt nicht, sondern erlebt sie als Bild. In der heutigen Zeit stürmen viele Bilder unterschiedlicher Qualität auf uns ein. Sie alle kommen von außen und wirken beim Kind bis ins Körperliche hinein, denn es lebt in seinen Sinnen: das Wahrgenommene prägt sich ihm ein. Ein Bild macht Eindruck! Daher sollten die Bilder nicht zu aufdringlich sein, damit das Kind sich zu ihnen in ein freies Verhältnis setzen kann.

EK | Welche Kriterien gibt es für altersgerechte Bilderbücher?

BP | Beim kleinen Kind sollte das Ganze sichtbar sein und nicht nur ein riesiger Kopf, der die Seite füllt, bei dem der Rest des Körpers fehlt. Es kommt aus dem Ganzen und kann sich an der Zerstückelung, Vereinzelung nicht gut orientieren. Die Welt als ganz und gut zu erleben, ist seelenbildend, aber auch die Voraussetzung für körperliches Wohlbefinden. Für das kleine Kind ist die Welt gut. Das ist seine innere Voraussetzung, mit diesem Urvertrauen tritt es an. Das heißt auch, dass die Bilder in sich stimmig sein müssen, also ohne Abstraktion, Zynismus, Übertreibung oder Verzerrung auskommen sollten.

EK | Wenn das Kind ins Schulalter kommt, was ist dann für die Auswahl eines geeigneten Buches wichtig?

BP | Im zweiten Jahrsiebt leben Kinder in der Empfindung: Die Welt ist schön. Sie wird empfunden, ohne dass die Empfindungen reflektiert werden. Daher leben sie oft noch in der Welt des Elementarischen, der Zwerge und Elfen. Es eignen sich Geschichten, die so erzählt werden, dass man ganz in die Erzählweise eintauchen kann.

Wunderbare Beispiele sind »Die Wichtelreise« von Dennys Watkins-Pitchford oder der alte Klassiker »Der kleine dicke Ritter« von Robert Bolt. Viele Geschichten erzählen heute nicht mehr, sondern erklären. Sie sprechen das Verstehen an und nicht das Miterleben. Gewürzt werden sie dann mit Spannung und Slapstick, damit Kinder mit der Aufmerksamkeit dabei bleiben. Aber sie sind seelisch nicht nachhaltig, sondern wie Weißbrot mit Nutella.

EK | Wie ist es dann um das neunte Lebensjahr?

BP | Im sogenannten Rubikon erlebt das Kind erste Einsamkeitsgefühle. Es empfindet sich getrennt von der Welt und steht ihr als etwas Fremdem gegenüber. Das »Fürsichsein« wird stärker empfunden und damit auch der Verlust von Verbundenheit, auch gegenüber den Eltern. Es tritt eine Art innere »Traurigkeit« ein, die von Geschichten gut aufgegriffen werden kann. Geeignete Bücher sind hier z.B. Henning Köhlers »Der Geschichtenkönig und das Sternenkind« oder »Die Abenteuer des starken Wanja« von Otfried Preußler. Es sollten Geschichten sein, die Vertrauen einflößen, um dem Gefühl der Entfremdung entgegenzuwirken. Geschichten, die ein Gegengewicht zum Erlebnis bieten, dass es den Boden unter den Füßen verliert.

EK | In der Mitte der Kindheit – beim Übergang von der Kindheit zur Jugend – was gilt es da zu beachten?

BP | Jetzt zählen die Taten: Heldengeschichten und Mut. Kinder möchten ihre Kraft auch in den Geschichten spüren – Jungs wie Mädchen.

Wichtige Themen sind die Beziehungen der Menschen zueinander, Erzählungen darüber, wie man jemandem hilft. Dabei sollten die Geschichten noch nicht zu nahe an die aktuelle Lebenssituation herantreten, sie von weiter weg erzählen, von einer anderen Zeit oder anderen Verhältnissen. Wunderbare Bücher für dieses Alter haben Rosemary Sutcliff, aber auch Patricia St. John und Tonke Dragt geschrieben. Man ist auf dem Höhepunkt seiner Kindheit. Erst danach tritt man in die eigene Gefühlswelt bewusster ein. Jetzt beginnt die Pubertät mit dem persönlichen Erleben und der immer dringlicheren Frage an die Welt – ist sie wahr? Es wird geprüft und es wird der Anstoß gesucht. Wie verhalten wir uns und was ist gut und schlecht oder gar ungerecht?

Hier spielen Biographien eine wichtige Rolle. Vorbilder werden gesucht. An ihnen können die Jugendlichen sich begreifen; thematisch kann mehr zwischen Mädchen und Jungen differenziert werden. Ein schönes Buch ist »Das Apfelkuchenwunder« von Sarah Fitzgerald Moore. Es erzählt von einer noch guten Kinderfreundschaft, die sich verändert, bei der man nicht genau weiß, wie sie sich weiterentwickelt … da spielen auch Verrat und Mobbing hinein, was auf feine Art erzählt wird; sie ist für Jungen und Mädchen gleichermaßen geeignet. Oder die Geschichte von Myron Levoy, »Lisa und Adam«, eine beginnende Liebesgeschichte. Es ist vor allem die Erzählart, die sie so besonders macht. Schließlich werden die Jugendlichen sich immer mehr ihre eigenen Bücher suchen, aber auch da gibt es Unterschiede zwischen Fantasy, Thriller und Problembüchern …

EK | Manchmal wird den Waldorf-Kinderbüchern vorgehalten, sie seien zu idyllisch und betulich.

BP | Kinder suchen nach etwas, dem sie ihre Verehrungskräfte entgegenbringen können. Sie tragen eine nahezu religiöse Sehnsucht in sich. Deswegen ist es gut, wenn aus einer inneren geistigen Größe heraus erzählt wird. Es geht um Geschichten über das Kosmische, über das, was unsere tägliche Welt übersteigt. Dies kann manchmal auf den Erwachsenen betulich wirken, aber die Erfahrung zeigt, dass selbst ganz moderne Kinder seelisch eintauchen können in Geschichten, die uns Erwachsenen zu heilig erscheinen.

EK | Bedeuten Märchen in unserer Zeit noch etwas?

BP | Unbedingt. Sie vermitteln Seelenbilder, an denen wir Entwicklung erleben können. Man könnte ganze Seminare zum Umgang mit einzelnen Märchen füllen.

EK | Was tragen die Bilder aus Geschichten und Märchen zur Bildung dieses seelischen Innenraums des Kindes bei?

BP | Es geht darum, dass die Geschichten so erzählt werden, dass sie in dem Kind ein verfeinertes Seelenleben anregen. Das Gefühlsleben birgt unendliche Tiefen in sich. Die Geschichten sollten in sich stimmig sein, nicht unsinnig. Es findet eine erste Zwiesprache zwischen dem Ich und der Welt statt.

Heute gibt es die Tendenz, dass Geschichten spektakulär daherkommen und mit allerlei Monstern ausgestattet sind. Die Märchen werden deshalb immer öfter umgeschrieben. Das ist gar nicht notwendig. Märchen vermitteln in dieser schnelllebigen Zeit den Kindern eine seelische Grundlage, auf die sie zurückgreifen können. Dafür sind gute Geschichten da.

Die Fragen stellte Heike Garcia-Münzer.