Klassenzimmer

Bilder wachsen mit

Friederike Gläsener
Bild: © David-W- / photocase.de

Franziskus, Sohn des reichen Tuchhändlers von Assisi, weist den Bettler, der seinen Laden betritt, mit schroffen Worten ab. Er ist ihm lästig und stört den sich gerade anbahnenden Handel mit vornehmen Kunden, der reichen Gewinn verspricht. Wieder alleine im Laden, steht das Bild des zerlumpten und bittenden Bettlers jedoch plötzlich vor seinem Inneren. Franziskus sieht dessen Blick, in dem alle Not und alles Leid der Welt zusammengedrängt zu sein scheinen. Bis ins Mark trifft ihn der Blick und blitzartig durchfährt ihn ein Entschluss: Er ergreift seinen prall gefüllten Geldbeutel und stürzt hinaus auf die Gasse, um den Bettler zu suchen. Als er ihn an einer Straßenecke knieend erblickt, packt ihn die Erleichterung und er schüttet dem Bettler den gesamten Inhalt seines Beutels in die Hände. Wie anders ergreift uns diese Erzählung, als wenn man uns ganz abstrakt sagt: «Sei schön hilfsbereit und gut zu anderen!» Wie tief eine solche Geschichte das Kind berührt, wie es sich den Vorgang innerlich ausmalt, wie es sich selbst gefühlsmäßig in ein Verhältnis dazu setzt, wie es Mitgefühl mit dem Bettler hat und Freude an der Wandlung zum Guten empfindet – all das wirkt in der kindlichen Seele und regt es an, selbst Mitfreude und Mitleiden mit seiner Umwelt zu entwickeln. Wie die Fantasie die Bilder ausschmückt, was genau empfunden wird, das ist individuell unterschiedlich. Das Besondere am von der Fantasie erzeugten Bild ist: Es legt nicht fest. Es berührt nicht nur intellektuell, es berührt Vorstellung, Gefühl und Wille, es ist wirkmächtig und lässt doch frei. Im Unterricht der Unterstufe kommen sich das äußere Bild der Gegenstände der Wirklichkeit und und das innere Bild der Entwicklungsstufe der Kinder, die nicht auf abstrakte Begriffe, sondern auf fantasievolle Bildhaftigkeit angewiesen sind, entgegen. Bilder entstehen durch die Erzählungen der Lehrer:innen oder Eltern. Je intensiver und reicher Erzählende selbst die Bilder in sich erleben, desto farbiger und plastischer gestalten sie sich auch in der Vorstellungskraft der Kinder aus. Bilder können sich bewegen, sie sind lebendig, wandelbar, individuell und nie ganz fertig.

Eisenhandschuh und Fischgräten oder lebendige Begriffe

Rudolf Steiner verglich gelegentlich das verfrühte Unterrichten in abstrakten Begriffen mit dem Anziehen eines Eisenhandschuhs, der die Hand am Wachsen hindere. Wir erzeugen zwar abfragbares und kontrollierbares Wissen, riskieren aber, dass durch seine Unlebendigkeit die Seele des Kindes austrocknet. Manchmal sind Eltern irritiert, wenn die Kinder – vor allem in den unteren Klassen – zu Hause nur wenig von dem Gelernten wiedergeben können. Man könnte jedoch ebenso irritiert sein, wenn ein Kind das Gelernte eins zu eins erzählt. Denn alles Aufgenommene soll zunächst verdaut und individuell verarbeitet werden. Diesem Prozess steht alles frühe Abfragen von Einzelheiten eher im Wege. Stattdessen ist der Blick auf die Gesamtentwicklung des Kindes und seine erlangten Fähigkeiten zu richten. Manches darf ins Vergessen absinken und wird dort seelenbildend arbeiten und zu seiner Zeit wieder in die Erinnerung treten, bzw. soll durch einen entsprechenden Vorgang im Unterricht wieder an die Oberfläche geholt werden. Denn die Unterrichtsinhalte werden in der Waldorfpädagogik nicht einfach als Wissen betrachtet, das vermittelt werden muss, zumal es heute überall Wissen auf Knopfdruck gibt. Vielmehr sollen alle Unterrichtsgegenstände den ganzen Menschen anregen, seine Möglichkeiten erweitern und ihm helfen, sich zu entwickeln, sodass er sich sinnerfüllt und tatkräftig ins Leben stellen kann. Bildhafter Unterricht formt freilassend und regt Entwicklung an, weil Bilder mitwachsen, weil sie prägnant und eindrücklich, gleichzeitig vielschichtig und wandelbar sind. Zu einem drastischen Bild greift Steiner in einem Vortrag vor Pädagog:innen in England 1923: «Was würden Sie sagen, wenn jemand, dem ein Fisch auf den Teller gelegt worden ist, sorgfältig das Fischfleisch weglegen würde, sich die Gräten aussondern und diese verzehren würde! Sie würden wohl wahrscheinlich eine furchtbare Angst bekommen, dass ein solcher Mensch an den Fischgräten ersticken könnte. Außerdem würde er diese Fisch­gräten seinem Organismus nicht in der richtigen Weise einverleiben können. Aber so ist es, ganz genau so, nur auf einem anderen Niveau, auf dem Niveau der seelischen Unterweisung, wenn wir einem Kinde statt der lebensvollen Bilder, statt desjenigen, was den ganzen Menschen beansprucht, trockene, abstrakte, nüchterne Begriffe beibringen». Bilder engen das Kind nicht ein, legen es nicht fest und wirken gerade darum bildend. Begriffe, die daraus nach und nach entwickelt werden, haben eine andere Qualität, als die abstrakt vermittelten. Rudolf Steiner sprach von lebendigen Begriffen, die mitwachsen können. Sie entwickeln sich – anders als Definitionen oder feststehende Begriffe – mit dem zunehmenden Verstehen und Urteilsvermögen der Kinder weiter. Damit bleiben sie altersgemäß, sodass  darauf aufgebaut werden kann. Das dient auch der Unterrichtsökonomie. Der Lehrplan bietet eine Fülle von Möglichkeiten, Bilder einzusetzen und in späteren Stufen erneut darauf zurückzukommen, um sie dann unter veränderten Gesichtspunkten und in anderer Qualität erlebbar zu machen. So bewirkt der Unterricht über die Jahre hin eine tiefe, lebendige, vielseitige und differenzierte Urteilsbildung bei den Schüler:innen.

Der Jahreslauf

Ganz besonders prägen die großen Imaginationen des Jahreslaufes das Erleben der Kinder. Der Wechsel der Jahreszeiten, Naturerlebnisse und die Festeszeiten werden wie ein großes Ganzes empfunden, das Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Freudig werden die bekannten Feste in jedem Schuljahr auf neuer Stufe gefeiert. Auch für den Erwachsenen können sie eine Quelle der Kraft, Ruhe und Lebensweisheit sein. Georg Kühlewind schrieb einmal: «Feste sind wie ruhende Inseln im Meere des Alltags, Kairoi, Zeitpunkte, an denen sich das Göttliche und das Menschliche zusammenfinden, wo die Wunde des Getrenntseins zeitweise geheilt wird, wo der wahre Friede sich einstellt … ». Schauen wir auf einige Urbilder im Lauf der Jahresfeste:

Wie innig berührt die Kinder die Gestalt der Maria bei der Verkündigung. Wir können an ihr die Bereitschaft erleben, offen zu sein, Ja zu einer Aufgabe zu sagen, die uns gestellt wird. Ja-Sagen im Vertrauen darauf, dass wir die nötigen Kräfte erhalten werden, um sie zu ergreifen und umzusetzen. Zu Weihnachten wird die Geburt des Kindes erlebt. Wir empfangen etwas Neues, etwas Zukünftiges, für das wir auch verantwortlich sind: eine Idee, eine Erkenntnis, einen Impuls, die wir pflegen und wachsen lassen sollen. Man könnte das als Lichtkeim bezeichnen, den wir in uns tragen. Entsprechend nimmt auch das äußere Licht im Jahreslauf langsam wieder zu. Zur Osterzeit wird uns die Möglichkeit der Überwindung von Leid und Tod vor Augen gestellt. Jeder Mensch kann tiefere Krisen in seinem Leben als eine Art Passionsweg erleben: Angst, Unrecht, Schmerzen, Verleugnung, Ohnmacht, Verrat sind einige Bilder aus der vorösterlichen Zeit. Mit dem Ostergeschehen aber ist das alles überwunden. Wie die Natur im Frühling ihre Keime aus der kalten erstarrten Erde ans Licht streckt und überall neu erblüht, so kann der Mensch, der die Osterkräfte in sich lebendig macht, Hoffnung, Erneuerung und die Möglichkeit zu innerem Wachstum finden. Es ist das Werden und Vergehen, das sich in der Natur und im menschlichen Leben stetig zeigt. Goethe sagt darüber:

«Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.»

An Pfingsten kennen wir von Gemälden aus der Kunstgeschichte die einzelnen Flämmchen über den Köpfen der Jünger. Es sind die Flammen des Geistes, die jede:r nur selbst entzünden kann durch innere Hinwendung und Aktivität – durch Begeisterung. Sie wird uns nicht einfach geschenkt; sie kann entstehen, wenn wir uns aus Gewohnheiten, Alltag und Resignation erheben und uns be-geistern.

Zu Johanni werden vielerorts große Feuer angezündet. Ist das kleine Flämmchen größer geworden?
Werde ich es zu einem Feuer an­wachsen lassen können? Über­nehme ich die Verantwortung für meine Entwicklung, arbeite ich an meinen Fehlern, die ich doch meist ganz gut kenne, mache ich Ernst mit meiner Selbstreflexion? Das sind typische Johannifragen. Johannes der Täufer, der Namenspatron des Festes sagte: «Er (Christus, das Höhere in uns) muss wachsen, ich (Ängste, Egois­men, Schwächen) muss weniger werden.» So gestärkt, besiegen wir mit Michael im Herbst die Drachenkräfte, also das, was hemmt, vernichtet, lähmt, zerstört. Dem äußeren Absterben der Natur können wir das seelische Wachstum entgegenhalten, um dann zu Weihnachten erneut den Lichtkeim zu empfangen. Wir sehen, wie der Lauf der Jahresfeste Entwicklungsbilder vor uns stellt, die Mut machen. Bilder, die geistige Realitäten enthalten. Sie können im Leben der Kinder eine Quelle von Freude und Selbstvertrauen werden. Und uns in Zeiten von Sorgen und Bedrängnis zurufen: Geh Deinen Weg!

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