Bilder wachsen und wandeln sich

Hartwig Schiller

Bilder unterscheiden sich nach Naturerlebnissen, nach kulturellen Leistungen oder geschichtlichen Vorgängen, nach persönlichen Gemütseigenschaften, aber auch nach Lebensalter, Lebensschauplatz und geistiger Identität. Zeitgenossenschaft zum Beispiel bildet einen allgemeinen Hintergrund des Seelenlebens und ist neben anderen signifikanten Einflüssen beim Zustandekommen von Vorstellungen wirksam. Auch die konstitutionelle Prägung des einzelnen Menschen spielt eine erhebliche Rolle. Fragt man ein neunjähriges Kind nach dem Aussehen eines Märchenhelden, dann ist er selbstverständlich schön, großwüchsig und gut und ähnelt Mutter, Vater oder Geschwistern. Bei einem cholerischen Kind nimmt das Züge von Entschlossenheit und Kraft an, beim melancholischen Kind von Mitleidsfähigkeit und Tiefe. Selbst manchen erwachsenen Menschen fällt es schwer zu akzeptieren, dass Rudolf Steiner ein ziemlich kleiner, schlanker Mensch war. In die Vorstellungsbildung will sich stets etwas hineinmischen, was aus unbewusst-willenshaften Regionen stammt. Bedeutung korrespondiert da eher mit leiblicher Stattlichkeit.

Bilder machen das Leben menschlich

Die Zeichnungen kleiner Kinder verraten die Grundlage ihrer Bildhaftigkeit. Da zeigen sich Wirbel, Kreuzungen, »Kopffüßer«, rhythmische Wiederholungen und andere Bildmerkmale analog zur leiblich-seelischen Entwicklung. In den Darstellungen zeigt sich ein unbewusstes Bild innerer Vorgänge. Einer der bedeutendsten Kunsttheoretiker des 19. Jahrhunderts, Konrad Fiedler, formuliert: »Alle Kunst ist Entwicklung von Vorstellungen, wie alles Denken Entwicklung von Begriffen ist.« Und nichts zeigt die Entwicklung der Bildauffassung im Kind so deutlich wie das Gebiet der Kunst.

Die kindlichen Bildvorstellungen lösen sich zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr vom Leiblichen. Ihr Spiel wird freier und bedient sich zum Beispiel im Rollenspiel einer vielfältigen Phantasietätigkeit. Menschen und Dinge können im Handumdrehen die verschiedensten Repräsentationen annehmen. Zugleich beginnt sich das Gedächtnis signifikant zu entwickeln. Es verändert sich von der Wiedererkennung von Erlebnisbezügen hin zu freien Themen- und Motivbezügen, es bekommt freie »semantische« Fähigkeiten.

Bilder sind jetzt nicht mehr Abbild und Wesensbild in untrennbarer Verknüpfung. Das Kind kann Erscheinungen immer exakter beschreiben und immer bewusster eigene Bilder erschaffen. Darin kündigt sich die Möglichkeit an, die funktional technische Außenseite der Welt mit ihrer wesenhaften Ausdrucksform zu verbinden.

Bilder haben neben der abbildend-ästhetischen Erscheinungsform eine tiefere, für die Pädagogik entscheidende Eigenart. Als Ergebnis sind sie »Bildnisse«, Ergebnis innerer »Bildungen« – im Vorgang ihres Entstehens aber Prozess. Am Ende jedes Bildungsvorganges steht ein Anblick, ihm voraus geht jedoch der entscheidende Weg des schaffenden Bildens. Gerade im Übergang von der Kindheit zur Jugend, in der Reifezeit, ist die Pflege dieses Vorganges von großer Bedeutung. Wer den schöpferischen inneren Bildungsvorgang pflegt, bewahrt den Zusammenhang von funktionalem Außen und wesenhaftem Innen. Er fördert die Möglichkeit zu humanem Technikverständnis und -umgang.

Ausdrucksübungen in jeder Form – sprachlich, farbig, klingend oder tänzerisch – sind Versuche, die Welt zu gestalten, in dem sie Wirklichkeiten schaffen und in ihnen lesen lehren. Sie regen die Phantasie an und rufen sie hervor. Bildung ist im Kern nichts anderes als das Ergebnis dessen, was der Mensch durch Arbeit aus sich macht. Erziehung als Bildung meint diesen Prozess einer künftigen Humanität, die das Leben menschlich erhält.

Wenn ein Falter durchs Klassenzimmer fliegt

Ein einschränkender Irrtum ist die Auffassung, Bilder seien auf den Bereich der darstellenden Kunst oder zweidimensionaler graphischer Repräsentanz beschränkt. Bilder entstehen in jedem Bereich sinnlicher Wahrnehmung, die uns zu Bewusstsein kommt. So kann der Anblick einer Architektur, die als Ausdruck totalitärer Machtentfaltung gestaltet wurde, das Bild hilfloser Ohnmacht des Individuums gegenüber dieser Macht hervorrufen.

Bei der Gedankenbildung müssen die Begriffe eindeutig bestimmt sein. Bei der »Bilderbildung« hingegen nicht. Der Klang einer Stimme kann bedrohliche, beruhigende, tröstende, verletzende oder unendlich viele andere Bildvorstellungen hervorrufen. Eindrücke unseres Lebenssinnes können uns bedrücken oder fröhlich machen. Diese Bilder entstehen da, wo Sinnesreiz und Bewusstsein sich zu einer Empfindung verbinden.

Phantasievolle Lehrer vermögen junge Kinder ganz in dieser Sphäre bildhafter Orientierung anzusprechen: »Kinder! Wir lassen jetzt einen Falter durchs Klassenzimmer fliegen. Alle nehmen ihre Hefte heraus und geben Acht, dass er sich nicht gestört fühlt und frei über euren Köpfen dahin gaukeln kann.

Heute wollen wir eine ganze Seite in den Heften beschreiben. Ohne Linien wollen wir dabei eine schöne Aufteilung schaffen. Stellt euch vor, Eure Heftseite sei ein Mensch. Das erste Wort schreiben wir jetzt dahin, wo sein linkes Ohr ist. Als nächstes schreiben wir ein Wort, wo sein rechter Fuß ist. Jetzt schreiben wir …« Zuletzt wird eine sauber gegliederte Seite sichtbar werden, ohne dass mit einfachen Ordnungsanweisungen wie »1. Zeile links«, »letzte Zeile unten« usw. gearbeitet worden wäre. Der Vorteil solcher Methoden liegt darin, dass Phantasie und Gestaltungskraft der Kinder herausgefordert, statt nur schematisch gedrillt werden.

Der Rotkäppchen-Wolf anatomisch betrachtet

Imaginative Bilder sprechen zur Phantasie des Kindes und besitzen insofern einen immensen Bildungswert. Sie regen die lebensbildenden Kräfte im Menschen an und fördern Gesundheit und Gestaltungswillen.

Mit zunehmendem Alter können sich solche Bilder verändern und mitwachsen. Der Wolf im Bereich von Märchen, Fabeln, Legenden und Mythen ist in der Regel ein Bild für Gier. Rotkäppchen wird in Versuchung geführt, immer großartigere Geschenke für ihre Großmutter zu suchen. Reinecke Fuchs lässt ihn beim Angeln seinen Schwanz im Wintereis festfrieren und der heilige Franziskus besänftigt ein bedrohliches Untier vor den Toren Gubbios. Der Fenris-Wolf verschlingt am Weltenende nicht nur den Mond, sondern zugleich noch den Göttervater Odin. Das sind prominente Beispiele einer bestimmten Bildsprache.

In der Tierkunde lernen die Schüler wenige Jahre später die Leibgestaltung des Wolfes mit seinen Lebensfunktionen in Verbindung zu sehen und so die imaginative Überein­stimmung von Wesen und Erscheinung zu verstehen.

In der Oberstufe werden die Merkmale der Tierarten nach mess- und zählbaren Kriterien untersucht. Dabei ist an die jetzt entstehende Bildhaftigkeit der Qualitäts­anspruch des bewusst Imaginativen zu stellen. Bilder sind dann nicht bloß naturhafte Empfindungen oder Illustrationen der Weltbegegnung. Vielmehr spricht im Bildverständnis der physiognomische Ausdruck der Erscheinungen. Diese werden dadurch geistig transparent, sie verraten ihre geistige Substanz.

Der Wolf kann das Beispiel bleiben, an dem dies verfolgt werden soll. Bei ihm ist die im Vergleich zu gleichgroßen Katzenarten größere Ausdauer unmittelbar auffällig. Die Nachdrücklichkeit seiner Wesensäußerung tritt bildlich in den von Speichel triefenden Lefzen oder den pumpenden Atembewegungen seines Brustkorbes hervor. Seine größte Stärke aber liegt in der gemeinschaftlich gesteigerten Hartnäckigkeit des Jagdverhaltens. Ein einzelner Wolf könnte niemals einen ausgewachsenen Hirsch bezwingen, ein Rudel sehr wohl. Dabei hetzt nicht etwa die ganze Gruppe bis zur Erschöpfung hinter der Beute her, sondern die Rudel­mitglieder übernehmen unterschiedliche Aufgaben: Während einige das Beutetier verfolgen, warten andere an bestimmter Stelle, um die Gefährten abzulösen, durch Angriffe zu verwirren und das Tier schließlich zu stellen.

In einem Wolfsrudel herrscht eine ausgeprägte Hierarchie. Jeder Wolf kennt sowohl alle anderen Rudelmitglieder als auch seinen eigenen Rang in der Gruppe und ordnet sich den ranghöchsten Artgenossen, den »Alphatieren«, unter. Rangniedrige Tiere sind als solche leicht an ihrem Verhalten zu erkennen: Sie nähern sich ranghöheren Wölfen leicht geduckt mit eingeklemmtem Schwanz und angelegten Ohren, sie »unterwerfen« sich.

Ein Wolf kaut während der Nahrungsaufnahme nicht, sondern zerteilt die Fleischbrocken mit den Reißzähnen in mundgerechte Stücke, die er dann verschlingt. Sein Geruchssinn ist hoch entwickelt. Bei günstigen Bedingungen kann er Gerüche aus bis zu 2,8 Kilometer Entfernung identifizieren. Auch der Gehörsinn zeigt bemerkenswerte Leistungen. Im Wald ist er in der Lage bis zu zehn Kilometer und im offenen Gelände bis zu 16 Kilometer weit zu hören.

Beim Sehvermögen ist nicht allein die Schärfe der Augen, sondern auch der zielgerichtet nach vorn orientierte Blickwinkel von 180o Grad markant. Typische Beutetiere des Wolfes haben hingegen einen in die Weite orientierten Blickwinkel von mehr als 300o Grad.

Alle anatomischen Einzelheiten gliedern sich dem Gesamtbild der Erscheinung sinnhaltig ein. Wölfe werden mittels ihres hochentwickelten Sinnesapparates in die Welt gezogen, der imaginative Wesensausdruck von Gier findet hier sein physiologisches Fundament. Das Tier ist auf spezifische Art auf seinen Umkreis bezogen. Geruch, Gehör und Sicht prägen in Verbindung mit dem Gebiss seine schlanke, nach vorn orientierte Schädelbildung. Was in der Unterstufe noch gefühlter imaginativer Wesenseindruck war, das wird in der Oberstufe zum goetheanistisch verständigen Lesen im Buch der Natur. Aus Tierkunde wird Zoologie als Wissenschaft, die sowohl den Ansprüchen rational überprüfbarer Kriterien und Messbarkeiten als auch der Suche nach dem erlebenden Verstehen des Zusammenhanges der Erscheinungen genügt.

Letzten Endes ist der Mensch in der Welt dort zu Hause, wo er sich selbst in den Welterscheinungen findet. Bild ist da nicht nur er, sondern zugleich auch die Welt. Verstehen resultiert aus der Kongruenz beider Bildbereiche.

Zum Autor: Hartwig Schiller, ehemaliger Klassenlehrer an der Rudolf Steiner-Schule in Hamburg-Wandsbek, dann Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart, ehemaliges Vorstandsmitglied des Bundes der Freien Waldorfschulen und seit 2007 Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland.

Literatur: Konrad Fiedler, Schriften zur Kunst, Bd. II, München 1991