Bilderworte einfangen. Ein Kunstprojekt der fünften Klasse in Wolfsburg

Angelika Wiehl

Die Begegnung mit originalen Kunstwerken sollte den Kindern Ideen für eigene Texte und Bilder entlocken. Wir ließen uns in der städtischen Galerie Wolfsburg inspirieren. In der zweiten Hälfte des Schuljahres verbrachten wir in ihr eine »Kunstwoche«, um Bilder einiger informeller und surrealistischer Künstler kennenzulernen. Es sind meist großformatige Gemälde mit kräftigen Form- und Farbgesten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellungsbesuche, das Verweilen vor den Kunstwerken, aber auch einige Motive und Erlebnisse der Baumfrau Julia Butterfly Hill, die ich jeden Morgen vor der Busfahrt ins Museum erzählte, inspirierten die Kinder. Durch die Erzählung erlebten sie, wie Julia liebevoll mit den Bäumen spricht, am ganzen Leib deren Existenz spürt und dem Blätterrauschen die Worte für ihre Gedichte ablauscht. Die Kinder vermochten mit Feinsinn, den Sprachbildern im Naturerleben der Baumfrau nachzuspüren und ihre Erlebnisse auf die Kunstbetrachtung zu übertragen. Sie brachten diese in kreativen Schreibversuchen, in Geschichten und Gedichten zum Ausdruck. Während sie auf dem Boden vor den Kunstwerken saßen, schrieben die Kinder ihre spon­­tanen Eindrücke in poetischen Texten auf. Anschließend trafen wir uns in einem Kreis zur Lesung aller Erstfassungen, die wir am nächsten Morgen überarbeiteten.

An die Ausstellungsbesuche schloss sich täglich eine Werkstattarbeit an, bei der die Kinder künstlerische Techniken kennen lernten und in freien Kompositionen ausprobierten. Zur Verfügung standen Wasserfarben für die Aquarellmalerei, Pastell- und Wachskreiden für Frottagen, Stifte aller Art, Werkzeuge und Papier in verschiedenen Qualitäten. Jedes Kind suchte nach seiner Bildsprache, gestaltete seine Farb- und Formkompositionen und malte im Laufe der Woche eine ganze Bilderserie. Die Gemälde und die poetischen Texte stellten wir fortlaufend in den Leporellos zusammen.

Am Ende der Woche luden wir Eltern und Freunde in die Galerie ein. Zum Auftakt unserer Präsentation gab die Bläsergruppe ein kleines Konzert. Nach den offiziellen Ansprachen gruppierten sich die Kinder an sogenannten Kunst-Stopps in den Galerieräumen, wo vor den Originalen auf dem Boden entlang ihre Leporellos lagen. Sie erläuterten den Eltern und Gästen die Kunstwerke und lasen dazu ihre poetischen Texte vor. Es war für alle ein Höhepunkt des Schuljahrs! Wir durften der Kunst im künstlerischen Schaffen nach Vorbildern und in einer außerschulischen Werkstatt begegnen und als Künstler der interessierten Öffentlichkeit unsere eigenen Kunstwerke präsentieren.

Moderne Kunst ist nicht nur etwas für Oberstufenschüler

In den Waldorfschulen nimmt der künstlerische Unterricht ab der ersten Klasse einen großen Raum ein. Ein Grundprinzip der Waldorfpädagogik ist die künstlerische und rhythmische Methodik. Spielerische Elemente beleben sowohl den besinnlich betrachtenden als auch den bewegungsmäßig tätigen Unterricht. Auch das künstlerisch-praktische Arbeiten begleitet die ganze Schulzeit. Aber der Ästhetikunterricht, die Kunstbetrachtung als Hauptunterrichtsepoche, wird erst von der 9. bis zur 12. Klasse erteilt. Mehr oder weniger vorbereitet staunen die Neuntklässler über den Reichtum der bildenden Künste und erkennen, wie von den frühesten Kunstwerken an die Plastik und die Malerei dem Bewusstwerden des Menschen dient und sein ursprüngliches Schöpfertum ausdrückt.

Schon mit dem beginnenden Schulalter nehmen die Kinder die plastischen und formenden Kräfte differenziert wahr. Das Kind, das um das siebte Lebensjahr herum seine Gedankenkräfte entwickelt, kann die Umgebung, in der es lebt, in Erinnerungsbildern festhalten und diese Bilder kreativ verändern. »Die Veränderungen im Vorstellungs- und Gedankenleben der Kinder«, schreibt Ernst- Michael Kranich in seinem Werk »Anthropologische Grundlagen der Waldorfpädagogik«, sind die Wirkung »künstlerisch gestaltender Kräfte«. Man muss laut Kranich die Kinder nach dem siebten Lebensjahr zu künstlerischem Schaffen und Erleben hinführen, sonst verkümmern Entwicklungsmöglichkeiten.

Neben der schöpferischen Tätigkeit bereichert das Wahrnehmen vorbildlicher Plastiken und Gemälde den Unterricht. Es begeistert Kinder und Jugendliche, wenn sie in der vierten Klasse leuchtende Farbflächen malen dürfen wie Alexej Jawlenski oder Jerry Zeniuk, wenn sie in der fünften Klasse kleinflächige Farblandschaften von Paul Klee oder surreale Bildgeheimnisse von Max Ernst nachgestalten können oder wenn sie in der siebten Klasse Bilder der Impressionisten, der Symbolisten und der Künstler des Blauen Reiters nacharbeiten sowie die asiatische Tuschemalerei erlernen dürfen. Sie wenden dabei – wie in den ersten Schuljahren – ihre Erfahrungen mit Wasserfarben, Kreiden und Buntstiften im »Kunstunterricht« an und entwickeln die Techniken weiter.

Sie entdecken und verinnerlichen die künstlerischen Vorbilder, auch wenn sie täglich den Einflüssen der Medien ausgesetzt und von einer wirren Bilderfülle umgeben sind. Neben den bewährten wöchentlichen Kunstfachstunden, in denen künstlerische Techniken fortlaufend geübt werden, lohnt es sich, ab der fünften Klasse jährlich eine Kunstwoche einzurichten. Neben Bild und Sprache eignen sich auch viele andere gestalterische Elemente: in der sechsten Klasse mit Sand und Farben arbeiten, in der siebten Klasse Großskulpturen aus Holzstämmen schnitzen, auf Klassenexkursionen wie in der »Landart« gestalten oder für Theaterstücke Bühnenbilder und Masken herstellen. Das sind nur einige erprobte Beispiele.

Kinder erleben Kunst viel unmittelbarer als Erwachsene

»Die Pädagogik muss die Sinne ›wiederentdecken‹«, bemerkt Adelheid Staudte, »weil die Entwicklung der sinn­­-lichen Fähigkeiten im unmittelbaren Lebensvollzug nicht mehr gesichert ist.« Beklagt wird die »Distanz zu den Unterrichtsgegenständen« und gefordert die »Unmittelbarkeit des Erlebens«. Die Schulpädagogik will die Sinnesschulung und das Künstlerische in den Unterricht integrieren. Die vielen Museumsangebote für Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene kommen dem Bedürfnis entgegen, sich durch das Künstlerisch-Schöpferische zu erfüllen.

Es geht um die ganzheitliche, sinnerfüllte und existenzielle Erfahrung durch Kunsterlebnisse, denn Kunstwerke bedeuten mehr als ihr unmittelbares Erscheinungsbild, sie begründen eine ganz andere Welt in uns. Kinder und Jugendliche erleben und betrachten Kunst viel unmittelbarer als Erwachsene. Sie sind offener für Entstehungsprozesse, die sie jedem Kunstwerk abspüren und in künstlerische Tätigkeit übertragen können. Den Blick weiten auf die Welt- und Selbsterfahrung – das war die Idee des Kunstprojekts.

Literatur: Julia Butterfly Hill, Die Botschaft der Baumfrau, Gütersloh 2000 / Ernst-Michael Kranich: Anthropologische Grundlagen der Waldorfpädagogik, Stuttgart 1999 / Adelheid Staudte in: G. Schneider (Hrsg.): Ästhetische Erziehung in der Grundschule. Argumente für ein fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip, Weinheim/Basel 1988