Bildung für Flüchtlingskinder

Matthias Riepe

Nach der Erstversorgung der Flüchtlinge wird ihre Integration eine andauernde und zentrale Aufgabe sein. Bildung wird dabei eine wesentliche Rolle spielen. Kindergärten und Schulen müssen hierzu in Kooperation mit anderen sozialen Akteuren Angebote und Strukturen entwickeln, die nachhaltig wirksam sind.

Die Integration der Vertriebenen gelingt aber nur, wenn die Angebote und Maßnahmen auf die Potenziale eingehen, die diese Menschen haben, und diese entfalten helfen. Die Aufnahme ist für Deutschland eine Chance, denn unsere Gesellschaft wird dadurch vielfältiger und reicher. Das Land, in dem wir leben, wird sich verändern.

Waldorfschulen und Waldorfkindergärten können beispielhafte Beiträge in Integrationsprozessen geben, wenn sie sich aktiv und sichtbar an den gesellschaftlichen Aufgaben beteiligen. Dadurch verändern sie sich selbst und werden neu in der Gesellschaft wahrgenommen.

Was kommt auf die Kinder zu?

Nach der UN-Kinderrechtskonvention hat jedes Kind ein Recht auf Bildung – unabhängig von seinem Aufenthaltsstatus. Asylbewerber unterliegen in allen Bundesländern der Schulpflicht. In Berlin, Hamburg und dem Saarland nach Möglichkeit von Anfang an, in Bayern und Thüringen nach drei Monaten, in Baden-Württemberg nach sechs Monaten. In den übrigen Bundesländern greift die Schulpflicht ab dem Moment, wo Asylbewerber von der Erstaufnahmeeinrichtung einer Gemeinde zugewiesen werden, also spätestens drei Monate nach dem Asylantrag. Jedes Flüchtlingskind hat Anspruch auf einen Schul-, Kita- oder Kindergartenplatz und auf Betreuung in der Offenen Ganztagsschule im Rahmen der gesetzlichen Regelungen. Integration fängt bekanntlich im Kindergarten an. Nicht nur weil Kinder so schneller die Sprache erlernen, sondern auch, weil sie und ihre Familien Kontakt zu anderen Familien finden. Sie können darüber hinaus früh an Präventivprogrammen teilnehmen, die an Kitas angebunden sind. Für 2015 rechnet das Innenministerium mit rund 800.000 Flüchtlingen. Im Juli 2015 wurde geschätzt, dass 300.000 bis 400.000 schulpflichtige Kinder nach Deutschland kommen.

Inzwischen rechnet die Bundesregierung mit weit mehr, weil Frauen und Kinder nachziehen werden (Stand Oktober).

Wie kommen die Schulen ihrem Auftrag nach?

Die Schulen reagieren auf den Flüchtlingsandrang in der Regel, indem sie Flüchtlings-, Aufnahme-, Willkommens- oder Sprachlernklassen bilden. Die Kinder werden zunächst in Auffangklassen unterrichtet, wo sie vorrangig deutsche Sprachkenntnisse erwerben sollen, um dann innerhalb eines Zeitraums von maximal zwei Jahren in Regelklassen integriert zu werden.

Die verwendeten Begriffe sind problematisch. Bezeichnungen wie Flüchtlings- und Aufnahmeklassen zielen auf Separierung, Willkommensklassen auf Schutzbedürftigkeit, wo es um Integration gehen sollte. Die Bezeichnung Sprachlernklassen reduziert Integration auf Spracherwerb, wo es doch eine Reihe anderer Lernmöglichkeiten gibt, durch die emotionale und soziale Kompetenzen erworben werden können. Es muss vermieden werden, den »fremden« Menschen über seine Fremdheit zu definieren. Denn sonst gehen die Hilfsmaßnahmen an der Situation der betroff­enen Kinder und Jugendlichen vorbei. Sie haben zum großen Teil furchtbare Erfahrungen gemacht; viele sind trauma- tisiert. Ihre psychische Stabilisierung steht an vorderster Stelle. Es muss vor allem darauf hingewirkt werden, dass die betroffenen Kinder das Gefühl entwickeln: Hier kann uns nichts mehr passieren, hier sind wir sicher.

Einjährige Schnellförderprogramme in speziellen Förderklassen reichen deshalb nicht aus, bevor sie in die Regelklassen wechseln. Hinzu kommt, dass die Flüchtlingskinder in den Förderklassen von den Regelklassenkindern separiert werden. Integration sieht aber anders aus.

Integration funktioniert nur in bestehenden Klassen

Flüchtlingskinder sollten in bestehende Klassen integriert werden. Dabei sollten für sie zusätzliche Lernangebote geschaffen werden. Schülerinnen und Schüler können zu Tutoren ausgebildet werden, um die Integration zu verstärken und zusätzliche Unterstützung zu ermöglichen. Damit dieses Integrationskonzept in Verbindung mit den Methoden der Peer Education erfolgreich sein kann, müssen die Schulen besondere Bedingungen herstellen und ihre Lehrkräfte und Schüler trainieren. Beispielhaft wurde ein solches Konzept mit der Erich-Kästner Gesamtschule Bochum entwickelt und wird inzwischen von vier Bochumer Gesamtschulen umgesetzt.

Voraussetzung ist, dass die schulische Organisation hierauf umgestellt wird: Das beginnt bei der Aufteilung der Kinder auf die Klassen und neuen Formen des Unterrichts. Es schließt zusätzliche Betreuungsangebote ein und den Aufbau eines Teams von Lehrkräften sowie deren Vorbereitung. Kinder und Jugendliche müssen als Tutoren ausgewählt und trainiert werden. Tutoren und Lehrer müssen sich regel­mäßig über ihre Arbeit austauschen. Auch die Eltern sollten einbezogen werden. Bei der Integration von Flüchtlings­kindern in bestehende Klassen müssen die sprachlichen, regionalen und kulturellen Eigenheiten und Werte geachtet und die überkulturellen Gemeinsamkeiten hervorgehoben werden. Idealerweise sollten Flüchtlingskinder möglichst mit Kindern lernen, die schon längere Zeit in Deutschland leben, aber aus derselben Region stammen und deren Sprache sprechen. Lehrkräfte benötigen hierfür gezielte Fort­bildungen, um sich Kenntnisse zu Kultur und Hintergrund der Krisen- und Kriegsregionen, aus denen die Kinder stammen, anzueignen.

Das gilt auch für die Themen »Fluchtwege«, »rechtlicher Status« (Asyl und Bleiberecht), »Traumatisierung und Umgang mit traumatisierten Menschen«, »Verhaltensweisen und Bewältigungsstrategien von Menschen unter den Bedingungen des Exils«. Sie sollten gut mit Hilfsorganisationen und Netzwerken vernetzt sein, die in der sozialen Arbeit und im Umgang mit Flüchtlingen erfahren sind und die sie als potenzielle Ansprechpartner unterstützen können.

Insbesondere Schülercoaches oder Schülerpaten sollten eine enge Betreuungsbeziehung zu den Flüchtlingskindern aufbauen und stabil halten. Dafür eignen sich feste, anfangs tägliche Begegnungszeiten während des schulischen Alltags. Verantwortlicher Ansprechpartner für die Schülercoaches muss eine Betreuungsperson aus dem Lehrerkollegium oder der Schulsozialarbeit sein.

Integrationsprojekte im Umfeld der Schule

Der Integration dient ebenso ein niederschwelliges Angebot für Kinder und Erwachsene nachmittags in den Schulräumen auch in Zusammenarbeit mit (städtischen) Projektträgern. Hier zwei Beispiele: Der Verein »Brücken bauen: Hilfe direkt« in Witten mit Waldorfpädagogen in der Rudolf-Steiner-Schule-Witten arbeitet mit Flüchtlingsfamilien und bietet kulturelle Inhalte, sprachliche Förderung, gemeinsame Feste und kulturelle Veranstaltungen (Sport, Musik, Theater, Tanz) an, um das Verständnis zwischen Menschen verschiedener Nationalitäten und Schicksale zu wecken.

Ein anderes, sehr beeindruckendes Projekt ist die »Bunte Schule Dortmund«, eine interkulturelle Waldorfinitiative, mit personellen Ressourcen aus den Waldorfschulen mit einem Spiel- und Essensangebot, Begegnungsräumen und Sprachkursen.

Und was können wir noch tun?

Eltern- oder Familienangebote könnten sein: Beratungsstunden für Flüchtlingseltern, Elternkurse, in denen Wichtiges über das Bildungs- und Ausbildungssystem in Deutschland gelernt wird, aber auch zu Themen wie Kindergesundheit, Hygiene, Medienerziehung und allgemeine Erziehungshilfe.

Die Angst vor dem Fremden verliert sich am schnellsten durch die unmittelbare Begegnung. Deshalb ist es wichtig, dass die Eltern der Flüchtlinge unmittelbar Kontakt haben können zum neuen Kulturkreis und zur neuen Lebenswelt der Kinder. Sonst geht das schulische Ankommen einher mit einer Entfremdung von der Familie, die zwar durch die gemeinsame Fluchtgeschichte zusätzlich eine sehr hohe Bindekraft hat, andererseits infolge erlittener Traumata Störungen und Gefährdungen unterliegt und somit auf Dauer keine endgültige Sicherheit bieten kann.

Zum Autor: Matthias Riepe ist Geschäftsführer der Zukunftsstiftung Bildung in der GLS Treuhand, Bochum. Er arbeitet als Coach und Berater für Organisationen, Schulen und Unternehmen.

Hinweis: Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag, der am 28. September 2015 auf der Bundesgeschäftsführerkonferenz in Kassel gehalten wurde.