Bildung ist kein Wettrennen

Rainer Strätz

Bei der Betrachtung von Übergangen richtet sich der Blick häufig nur auf die Person, die ihn bewältigen soll. Dabei gibt es mindestens zwei weitere Ebenen, die neben der individuellen wichtig sind: Die eine Ebene ist die der Beziehung der Menschen untereinander: Bei Übergängen müssen die Beziehungsnetze neu aufgebaut werden und bereits bestehende verändern sich. Die andere Ebene betrifft die Umgebung des Kindes. Gefragt werden muss, wie die (alten und neuen) Lebensbereiche des Kindes organisatorischstrukturell und didaktisch-konzeptionell so miteinander verzahnt werden können, dass der Übergang leichter fällt.

Kinder sind mitunter »Übergangsverlierer«

Bei vielen Kindern verläuft der Übergang nicht so glatt, wie gewünscht. Die Angaben über den Anteil dieser Kinder schwanken, Zahlen bis zu 40 Prozent werden genannt. Das heißt nicht, dass sie scheitern, aber sie verlieren Zeit, bis sie in der Schule Fuß gefasst haben, und vielleicht auch ihre Motivation. Drei Gründe lassen sich dafür festmachen: Angst und Unsicherheit, mangelnde soziale Kompetenz und der Bruch zwischen Kindergarten und Schule als Bildungseinrichtung.

Wie können Ängste von Kindern abgebaut werden?

Wie Ängste von Kindern aufgegriffen und ihnen signalisiert werden kann, dass sie ernst genommen werden, zeigt folgendes Beispiel: Kinder, die in die Schule kommen werden, schreiben mit Hilfe ihrer Erzieherin dem Rektor der Grundschule einen Brief. Darin beschreiben sie sehr präzise, wovor einige von ihnen Angst haben, und sie erhalten eine konkret gehaltene und Mut machende Antwort. Ohne eine funktionierende Zusammenarbeit zwischen Einrichtung und Schule wäre ein solcher Brief wohl weder geschrieben noch beantwortet worden.

Eine weitere Möglichkeit, Ängste gar nicht erst aufkommen zu lassen, bieten die altersgemischten Gruppen in einem Kindergarten. Denn die zukünftigen Schulkinder kennen schon ihre »Vorgänger«, sie können sich auf diese freuen, betreten kein unbekanntes Gebiet. Das soziale Netz ist so schon unter den Kindern selbst gewebt.

Dies macht den Wert von gemeinsamen Projekten von Grundschule und Kindergarten aus, an denen Erstklässler und Kinder teilnehmen, deren Einschulung ansteht: Sicherlich ist auch ein gut gewähltes Projektthema wichtig, aber zunächst geht es ihnen vielfach darum, sich – innerhalb und außerhalb der Tagesordnung – auszutauschen, meist über die Schule. M. Hense und G. Buschmeier beschreiben folgendes Beispiel: In einem Kindergarten steht die Umgestaltung des Außengeländes an und zu einer Pflanzaktion werden auch die Kinder, die im letzten Jahr eingeschult wurden, und ihre Eltern eingeladen. Selbstverständlich werden an diesem Tag auch die vorgesehenen Weidenhütten gebaut, vor allem aber wird über die Schule geredet. Die Kindergartenkinder wie auch ihre Eltern haben endlich die Möglichkeit, von glaubwürdigen Experten, nämlich den Erstklässlern und deren Eltern zu erfahren, wie Schule wirklich läuft. Wenn in ein solches Projekt auch die jeweiligen Eltern einbezogen werden, ergibt sich auf dieser Ebene übrigens derselbe Effekt.

Manchmal fehlen noch soziale Kompetenzen

Probleme beim Übergang entstehen auch durch den Mangel an sozialer Kompetenz, wie neuere Studien belegen. Die betroffenen Kinder reagieren sehr stark emotional, sind wenig aktiv und können weniger gut neue soziale Beziehungen eingehen. Gerade diese sozialen Kompetenzen sind es, die den Start in die Schule positiv beeinflussen und die den kognitiven Kompetenzen in der Schullaufbahn zum Durchbruch verhelfen. Aus gutem Grund haben sich Kindergärten schon immer besonders um die Förderung sozialer Kompetenzen bemüht, auch damit solche Übergangsprobleme nicht auftreten.

Bildungsprozesse müssen kontinuierlich verlaufen

Um Kinder nicht zu »Übergangsverlierern« zu machen, müssen sie ihre in den ersten Lebensjahren angeeigneten Methoden, sich mit Erfahrungen und Dingen, die ihnen begegnen, allein oder gemeinsam auseinanderzusetzen, bewahren können. Wenn diese in der Schule weder wertgeschätzt noch aufgegriffen werden, können Brüche entstehen.

Es geht nicht darum, Kindergarten und Schule bis ins Detail aneinander anzugleichen; das würde schon dem unterschiedlichen Entwicklungsstand der Kinder nicht gerecht. Dennoch sollten diese in den grundlegenden Prinzipien, nach denen die Kinder begleitet und gefördert werden, übereinstimmen. Hierfür stehen die folgenden Beispiele.

Bildungsprozesse sind keine Wettrennen, also müssen wir Entwicklungsschritte abwarten und können den übernächsten nicht vor dem nächsten verlangen. Bei Kindergartenkindern müssen wir abwarten, bis sie zwischen einem Wort und dem Gegenstand, den es bezeichnet, unterscheiden können. Solange sie das nicht tun, sind sie nicht bereit für eine Beschäftigung mit der Schriftsprache. Später, in der Schule, erobern sich die Kinder das geschriebene Wort, aber wiederum Schritt für Schritt: »EHHAP HOITE MOAGEN KOMPJUTA GSCHPILT« hat zum Beispiel der sechsjährige Jakob geschrieben (aus Köhler, in: Bartnitzky / SpeckHamdan 2004).

Einmal abgesehen von der Frage, ob es ratsam ist, dass kleine Kinder morgens am Computer spielen: Jakob hat Riesenschritte auf dem Weg zur Schriftsprache gemacht, weil er sehr genau zuhört und konsequent versucht, lautgetreu zu schreiben. Seine Schreibweise von »hoite« kommt unserer üblichen Aussprache des Wortes viel näher als die grammatikalisch korrekte Schreibweise. Darin muss er zunächst bestärkt werden; verfrühte Hinweise auf die vielen Ausnahmen würden ihn nicht weiter bringen, sondern verunsichern. Erzieherinnen müssen übrigens denselben Effekt beim Erwerb der gesprochenen Sprache Eltern erläutern und sie zu Geduld mahnen, wenn ein Kind in einer bestimmten Entwicklungsstufe nicht nur winkte sagt, sondern auch singte, springte und stinkte.

Kompetenzen entwickeln sich – bei welchen Gelegenheiten auch immer. Das oben abgebildete Mädchen fordert sich im Kindergarten selbst zu einer Höchstleistung in der Koordination von Auge und Hand und in ihrer feinmotorischen Geschicklichkeit heraus – beides wird sie beim Schreiben dringend brauchen. Aber sie macht es nicht bei künstlich arrangierten »Schwungübungen«, sondern viel wirkungsvoller in der Schminkecke.

Entsprechendes gilt auch für die Schule: Entwickeln Kinder ihre mathematischen Fähigkeiten nicht besonders wirkungsvoll weiter, wenn sie sich selbst vor Aufgaben stellen? Wenn sie zum Beispiel mit acht Meterstäben nicht nur das Klassenzimmer ausmessen, sondern auch den Schulhof ? Oder wenn sie Straßenbahnfahrpläne zur Planung des nächsten Ausflugs zu Rate ziehen und damit umzugehen lernen – einschließlich der Berücksichtigung der Zeit, die eine Schulklasse zum Umsteigen braucht?

Lernen findet stets in dem schmalen Korridor zwischen Unterforderung und Überforderung statt, der bei jedem Kind und jedem Lernschritt anders aussieht. Aber nur wenn wir dies berücksichtigen, dann stellen wir Kinder vor Herausforderungen, die schwierig genug sind, um reizvoll zu sein, die aber auch bewältigt werden können. Dann werden diese Kinder nicht nur Wissen und Kompetenzen erwerben, sondern auch die Bereitschaften und Einstellungen, die ihnen helfen, an ihre Grenzen zu gehen: Die Bereitschaften zum Beispiel, vor Herausforderungen nicht wegzulaufen, auch Misserfolge zu riskieren, nicht aufzugeben, aus Fehlern zu lernen und sich realistische Ziele zu setzen.

Eltern sind entscheidende Bildungspartner

Die Eltern werden in die gemeinsame Gestaltung der Übergänge noch nicht überall so intensiv einbezogen, wie dies notwendig wäre. Bereits vor dreißig Jahren wurde erkannt, dass ein Kind umso mehr von seinen Erfahrungen im Verlauf seiner Entwicklung profitieren kann, je mehr kontextübergreifende Beziehungsnetze (Kindergarten – Schule – Elternhaus) bestehen. Wir unterstützen Kinder also nicht nur dadurch, dass wir sie unmittelbar individuell fördern, sondern ebenso dadurch, dass wir ihnen wahrnehmbar zeigen, dass wir uns gemeinsam um sie bemühen. In diesem Zusammenhang sollten die Fachund Lehrkräfte sich vor Augen führen, dass – im Gegensatz zu ihnen selbst – die Eltern die einzigen Bezugspersonen sind, die das Kind während der gesamten Zeit des Übergangs begleiten und unterstützen können. Dies ist wohl einer der Gründe dafür, dass der Einfluss des Elternhauses auf die Bildungskarriere von Kindern deutlich größer ist als der Einfluss von Institutionen, wie dies der 12. Kinderund Jugendbericht des Bundesministeriums belegt. Ein halbstündiges Gespräch mit den Eltern fördert ein Kind mehr in seiner weiteren Entwicklung als ein individuelles Förderangebot für dieses Kind.

Die Eltern sind immer dabei

Eltern sind immer beteiligt: Sie wollen ihr Kind begleiten und so gut wie möglich vorbereiten oder vorbereitet wissen. Auch Eltern müssen die Übergänge ihres Kindes bewältigen. Auch für sie ist ein Lebensabschnitt unwiderruflich vorbei, sie sind nicht mehr die Eltern eines »kleinen« Kindes. Auch sie fragen sich, welche neuen Anforderungen auf sie zukommen und mit welchen Menschen sie zu tun haben werden. Sie suchen daher Sicherheit, wollen wissen, wie sie sich verhalten sollen und wollen keine Fehler machen. Da ist es nicht verwunderlich, dass sie oftmals auf die oben geschilderten Informationen – vielleicht noch aus dritter und vierter Hand – hereinfallen und dass sich plötzlich bei ihnen bestimmte Überzeugungen bezüglich einer guten Vorbereitung auf die Schule festsetzen, die aus fachlicher Sicht zumindest zweifelhaft sind.

Wir müssen Kinder bei ihren Übergängen unterstützen

Übergänge stellen Kinder vor Herausforderungen, die ihre Ressourcen und Stärken herausfordern und eine beschleunigte Entwicklung auslösen können. Sie können aber auf der anderen Seite bedrohlich und verunsichernd wirken. Wir müssen die Kinder daher unterstützen – indem wir ihnen helfen, ihre Ängste und Unsicherheiten zu bewältigen. Dies ist möglich durch eine gute Kooperation von Kindergarten und Schule und Eltern.

Zum Autor: Prof. Dr. Rainer Strätz arbeitet und lehrt am Sozialpädagogischen Institut NRW – FH Köln zu den Themen: Soziale Beziehungen, Umweltpädagogik, Qualitätsmanagement und frühkindliche Bildung.

Literatur: Chr. Leyendecker, T. Horstmann (Hrsg.): Große Pläne für kleine Leute. München 2000 W.E. Fthenakis (Hrsg.): Elementarpädagogik nach PISA. Wie aus Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen werden können. Freiburg 2003 Horst Bartnitzky / Angelika Speck-Hamdan (Hrsg.): Leistungen der Kinder wahrnehmen – würdigen – fördern. Frankfurt am Main 2004

Links:
www.bmbf.de/lpublikationen/index.php
www.spi.nrw.de/bildungshaeuser/a-index.html
www.transkigs.nrw.de