Biographische Bezüge

Stefan Grosse

Einer der augenfälligsten Binnenbezüge in einer Biografie ist der zwischen Lebensabend und Kindheit, wenn das Langzeitgedächtnis des alten Menschen sich intensiv sinnend mit den frühen Ereignissen des eigenen Lebens beschäftigt. Auch generationenübergreifend ist dieses Band wirksam, z.B. wenn die Großmutter dem Enkel Märchen erzählt. In der Schule ist ein ähnlicher Bezug auffällig, wenn älteren Lehrern wegen ihrer gemütvollen, altersweisen Art sofort die Herzen der jungen Schüler zufliegen. Und dann kann es durchaus passieren, dass dieselben Lehrer, die so unkompliziert Zugang zu den Jüngsten finden, nicht mehr ganz selbstverständlich die Sprache und Gedanken der Oberstufenschüler sprechen und nachvollziehen können – und umgekehrt. Ältere Schüler und jüngere Lehrer finden oft leichter zueinander, womit ein dritter Binnenbezug in der Biografie benannt wäre. Auch hier gilt, wie schon im ersten Beispiel, dass dieser sowohl innerhalb einer Biografie als auch generationsübergreifend von einer zur anderen Biografie anwendbar ist.

Kindheit und Jugend gliedern sich demnach in drei Abschnitte: frühe Kindheit bis zum Zahnwechsel, Schulkind bis zur Geschlechtsreife und Jugend bis zum Erwachsensein. In den ersten Jahren dominiert eine tätige – keine vorstellungsmäßige – Verbindung mit der Welt.

Das jüngere Schulkind nimmt sie gemüthaft-reflektierend auf, wohingegen der Oberstufenschüler seinen Intellekt, seine Urteilskräfte ausbildet, um die Welt zu ergreifen. In Sukzession entwickeln sich Wille, Gemüt und Denken.

Blicken wir auf den Menschen, der die Lebensmitte überschritten hat, der ins Senatorenalter gekommen ist und im dritten Drittel seines Lebens steht. Auch hier gliedern sich die Lebensabschnitte in drei Phasen. Der über Vierzigjährige, der mit Tatkraft und Gestaltungsvermögen in die Gesellschaft hineinwirkt, entfaltet Willenskräfte, der etwas ältere Mensch, der sich allmählich aus dem Getümmel zurückzieht und die Ereignisse in weiser Gelassenheit überblickt, lebt stärker aus seinem Gemüt und der noch ein wenig ältere Mensch, der sein Leben erkennend-erinnernd betrachtet, lebt in seinen Gedanken. Auch in diesem Dreischritt treffen wir auf die gleiche Abfolge wie in der Jugend: Wille – Gefühl – Denken.

Nehmen wir nun die Bezüge in den Blick: Der alte Mensch findet einen unmittelbaren Zugang zum Vorschul-Kind: In dieser Beziehung treffen die Willenskräfte des Kindes auf die Erinnerungs- und Vorstellungstätigkeit des alten Menschen. Beim Schulkind, das mit dem älteren Lehrer harmonisch zusammenfindet, treffen junge, erwartungsoffene Gemütskräfte auf altersweise, und beim Oberstufenschüler, der im jüngeren Lehrer seinen Ansprechpartner findet, kommen die Ideale des Jugendlichen mit dem Gestaltungswillen des Erwachsenen zusammen.

Es wurde bisher das erste und das letzte biografische Drittel betrachtet und dabei vermieden, diese Abschnitte mit genauen Zeitgrenzen zu belegen, da es mehr um ein Erfassen der unterschiedlichen Qualitäten dieser Abschnitte geht und im scharfen Konturieren schnell das Wesentliche an der Sache übersehen wird. Nun stellt sich aber die Frage nach dem mittleren Lebensdrittel.

In der Mitte: Das Lebensmotiv finden

In dieser Zeit findet der Mensch häufig sein Lebensmotiv und realisiert seine Impulse, kommt frei zu dem, was ihm eigen ist. In Kindheit und Jugend ist man, je jünger, desto stärker, eingebunden in das, was durch die Familie gesetzt ist. Im Alter binden einen die Folgen dessen, was man selbst einmal in der Vergangenheit angelegt hat. Die mittleren Jahre sind aber nicht nur die Zeit, in der man zu sich selber findet, sondern auch die Lebensphase, in der man darauf achten muss, dass man nicht zu denen gehört, die hauptsächlich das Schwinden der Jahre zählen, die »verspießern«, sondern zu jenen, die etwas »aus sich machen«. Das ist aber, je älter man wird, eine echte Herausforderung: Was man an Ahnungen, an in eher verborgenen Seelenwinkeln schlummernden Impulsen, an Nachtgedanken in sich trägt, muss man wecken, einfangen, festhalten und verwirklichen, sonst ziehen sie vorbei und sind verloren. Zwei biografische Skizzen mögen das hier Gemeinte veranschaulichen.

Der Gynäkologe und Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege wuchs im Umkreis einer christlichen Mission als Kind eines Priesters in Bukavu, Kongo, auf. Sonntags nach der Predigt begleitete er den Vater gerne zu Hausbesuchen bei Gemeindemitgliedern. So kamen sie einmal zu einem kranken Jungen. Der Vater sprach ihm Trost zu und betete mit ihm. Nachdem Vater und Sohn das Haus verlassen hatten, fragte Denis: »Wird er durch das Gebet jetzt gesund?« Der Vater musste zugeben, dass das Gebet alleine nicht ausreiche, dass noch ein Arzt helfen müsse. Dieses Gespräch legte in dem Kind den Keim zu dem späteren Entschluss, Kinderarzt zu werden. Nach einer durch kriegerische Gewalt geprägten Kindheit und Jugend kam er schließlich nach Kinshasa an die Universität, um Medizin zu studieren. Ihm wurde aber beschieden, dass das Land Ingenieure brauche, keine Ärzte, er könne Ingenieur werden. Und wenn er fleißig studiere, könne er ja danach ein Medizinstudium anschließen. Er erledigte das ungeliebte Ingenieursstudium in Rekordgeschwindigkeit mit Best­noten. Nun wurde ihm gesagt, dass ein so glänzender Ingenieur wie er nicht Arzt werden könne. Darauf verließ er seine Heimat und studierte im Nachbarland Ruanda unter wissenschaftlich unvorteilhafteren Bedingungen Medizin. Für eine Famulatur kehrte er über die Grenze in seine nahe Heimatstadt Bukavu zurück. Kaum hatte er die Stelle angetreten, als sich der leitende Arzt in den Urlaub verabschiedete. Gleich am ersten Tag war er gezwungen, ohne jede Praxis eine gynäkologische Notoperation durchzuführen. In den folgenden Wochen lernte er das Elend der viel zu jung Gebärenden kennen. Nicht wenige schleppten sich mit letzter Lebenskraft nach einem tagelangen Fußmarsch ins Krankenhaus, das tote Kind zwischen den Beinen. Zu dieser Not gesellte sich das Leid der Kriegsverstümmelten, denn es war ein erklärtes Mittel der Kriegsführung der Guerilla, Vergewaltigungen und Genitalverstümmelungen als Kriegsinstrumente einzusetzen. Mukwege entschloss sich, Gynäkologe zu werden. In Angers in Frankreich wollte er sich zum Facharzt ausbilden lassen. Nach kurzer Zeit war sein Geld aufgebraucht. Es war ihm untersagt, nebenher zu arbeiten, außer als Arzt im Krankenhaus. Für Nachtwachen und Notdienste hätte er ein Auto gebraucht, um schnell zur Stelle zu sein. Da er keines besaß, musste er das Studium aufgeben. In diesen Entscheidungstagen drückte ihm die Kassiererin im Supermarkt eine Karte für ein Preisausschreiben in die Hand, die er ausfüllte und einwarf. Kurze Zeit später wurde er darüber informiert, dass er den Hauptgewinn gezogen habe: Ein Auto. Er konnte die Stelle im Krankenhaus antreten und seine Facharztausbildung zu Ende führen. Während dieser Zeit holte er seine Familie nach Frankreich, die Kinder gingen dort in die Schule, man wurde in dem Land heimisch. Und dann kam die Entscheidung: bleiben oder zurück in den Kongo. Und Mukwege ging zurück. Da war er 34 Jahre alt. Er blieb seinem Lebensmotiv treu.

Ein weiterer Friedensnobelpreisträger: Muhammad Yunus. Als er die Grameen Bank für Mikrokredite gründete, war er 36 Jahre alt. 1940 als Sohn eines Juweliers geboren, in der damals noch ostpakistanischen Millionenstadt Chittagong zur Schule gegangen, war er durch besondere intellektuelle Fähigkeiten aufgefallen und erhielt mehrmals begehrte Stipendien, die ihm letztlich ein Studium in den USA ermöglichten, wo er Professor für Ökonomie wurde. Als 1971 aus Ostpakistan Bangladesch wurde, ging er in seine Heimat zurück, um am Aufbau des Landes mitzuarbeiten. Er wurde Professor in Chittagong. Bitterste Armut war in dem Land schon immer allgegenwärtig gewesen. So überraschte es nicht, dass er Theorien zur Armutsbekämpfung vortrug – in klimatisierten Hör­sälen für die Kinder der Reichen. Als er nach einer solchen Vor­lesung nach Hause ging, stolperte er über einen Verhungerten, der auf den Stufen der Universität gestorben war. Er war buchstäblich auf die Realität gestoßen – und wollte ihr nicht mehr ausweichen. Statt zu theoretisieren, ging er mit seinen Studenten in die nahegelegenen Slums, um die Bewohner zu befragen. Er lernte ein System von Abhängigkeiten kennen, das die Ärmsten in einem ewigen Teufelskreis gefangen hielt, der nur durch eine initiale Unabhängigkeit durchbrochen werden konnte. Dafür hätte es in den meisten Fällen eines kleinen Kredits bedurft. Es ging dabei um so geringe Summen, dass keine Bank dafür einen Verwaltungsaufwand betreiben wollte. Und übliche Sicherheiten konnten auch nicht hinterlegt werden. Yunus hatte aber durch seine Menschenbegegnungen in den Slums erlebt, dass es sehr wohl Sicherheiten gab, und zwar ziemlich ausschließlich geleistet von Frauen: die Ehrlichkeit, die tiefe Sehnsucht nach einem menschenwürdigen Leben und den unverbrüchlichen Willen, für ihre Kinder zu sorgen. Diese Erfahrungen und Erkenntnisse waren die Geburtsstunde der Grameen Bank für Mikrokredite, einer Bank, die mit einer der geringsten Ausfallverlustquoten weltweit arbeiten kann. Yunus hat einen latenten Impuls – das Forschen an Armutstheorien belegt dies –, der plötzlich durch ein äußeres Ereignis scharf ins Bewusstsein gehoben wurde, ergriffen und festgehalten und auf diese Weise sein Lebensmotiv gefunden.

Beide Beispiele machen deutlich, um was es in der Lebensmitte geht: Das Aufgreifen und Verwirklichen von Lebensimpulsen, die an die Grenze des scheinbar Unmöglichen stoßen.

Zum Autor: Stefan Grosse  ist Klassen- und Religionslehrer an der Freien Waldorfschule Esslingen und Vorstandsmitglied des Bundes der Freien Waldorfschulen.

Literatur:

D. Mukwege: Meine Stimme für das Leben, Gießen 2018 | M. Yunus: Für eine Welt ohne Armut, Bergisch-Gladbach 2006 | R. Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, Band 2, GA 236, Vorträge v. 18.5.1924 und 24.5.1924; ders./ebd.: Band 5, GA 239, Vorträge v. 23.5.1924, 24.5.1924, 25.5.1924.