Schlagworte wie »Sprachverfall« oder »Sprachentwicklungsstörungen« beherrschen heute die öffentliche Diskussion. Ersteres bezieht sich auf den Zustand der Sprache, letzteres auf den des Sprechers. In Anlehnung an die ökologische Situation könnte man sagen: Man stellt fest, dass die sprachlichen »Pflanzen« nicht mehr einfach so von selbst wachsen. Sprache wird zwar weiterhin ausgesät, aber die Saat erbringt nicht mehr den gleichen Ertrag wie früher. Irgendein sprachlicher »Klimawandel« scheint sich abzuspielen, irgendeine Trockenheit lässt das Sprechen verkümmern, irgendein Kunstdünger zehrt den Boden aus oder lässt anderes, ungewolltes »Unkraut« wuchern.
Der Mensch ist der Boden und die Sprache die Pflanze
Zum Sprachganzen gehören die beiden Faktoren: der Mensch und die Sprache. Sie stehen in einem Wechselverhältnis miteinander wie Boden und Pflanze. Es muss einen geeigneten Boden geben, auf dem etwas wachsen kann, den Menschen, und geeignete Pflanzen, Sprachformen, die sich auf diesem Boden entwickeln und verwandeln können. Wird der Boden nicht gepflegt, kann auch kein Sprachwesen auf ihm grünen und blühen. Und umgekehrt: Wenn sich kein Sprachwesen entfaltet, das es bis zur Frucht- und Samenbildung bringt, dann verkümmert auch der Boden.
Der Kreislauf hat bisher von selbst funktioniert. Die tief unbewusste, »unberührte« Sprach-Natur im Menschen war so stark, dass man sich um ihren Erhalt nicht kümmern musste. So wie man sich vor fünfhundert Jahren nicht um Erziehung zu kümmern brauchte, so brauchte man sich vor fünfzig Jahren noch nicht um »Sprache« zu kümmern. Das Problembewusstsein im sprachlichen Bereich ist jünger als im ökologischen Bereich. Betrachten wir ein Ereignis aus dem Jahr 2007.
Sprachtest: Jeder Sechste fällt durch
Unter den Sprachstandserhebungen und Frühfördermaßnahmen, die mittlerweile in allen Bundesländern eingeführt wurden, ragte 2007 »Delfin 4« in Nordrhein-Westfalen hervor. Zum ersten Mal wurden in einem deutschen Bundesland systematisch alle Kinder eines Jahrgangs, die Vierjährigen, auf ihre Sprachfähigkeit getestet. Die Teilnahme war obligatorisch. Das Ergebnis: Von 180.000 Kindern bestand mehr als ein Sechstel den Test nicht in befriedigender Weise und wurde in die »zusätzliche Sprachförderung« bestellt.
Was mir besonders auffiel, war, dass nirgendwo Genaueres darüber zu finden war, um welche »Sprache« es eigentlich ging. Es war immer nur von »Sprachkompetenz«, von »Sprache« oder »Deutsch« die Rede. Nur Kritiker wiesen darauf hin, dass offensichtlich stillschweigend einzig die deutsche Standardsprache mit ihren grammatischen Regeln gemeint war. Diese Sprachform, die im Wesentlichen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts regularisiert wurde und seither in ihren wesentlichen Strukturmerkmalen, ihrer Orthographie nahezu unverändert tradiert wird, entspricht bei vielen Kindern, gleichgültig, ob einheimischer oder ausländischer Herkunft, natürlich nicht der Lebensrealität.
Es wurde auch nicht thematisiert, ob die Kinder nun »sprechen« oder »kommunizieren« können sollen, und wie das eine im Unterschied zum anderen aussieht oder aussehen soll. Unter dem Motto »Sprache ist der Schlüssel zur Bildung« ging es lediglich um eine Standortbestimmung für die künftige Einschulung.
Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass das, was bei »Delfin 4« nicht thematisiert wurde, ein Schlüsselfaktor bei dem Problem ist, nämlich die Sprache. Das scheint jedoch nicht einmal von Ferne in Betracht gezogen zu werden. Mir kommt das so vor, als wenn man bei zehn bis zwanzig Prozent der Kinder Allergien feststellen würde, beispielsweise gegen Milchprodukte, aber niemand käme auf die Idee, dass es auch an der Qualität der Milch liegen könnte. Alle therapieren nur an dem Kind herum und suchen die Ursachen nur in dessen jeweiligen Lebensumständen, d. h. in sozialen Verhältnissen, kommunikativem Alltag, Medienkonsum usw. Aber man fragt nicht, welche Sprachform eigentlich geeignet ist, das Kind sprecherisch aufzupäppeln.
Geht es auch ohne Homogenisieren und Pasteurisieren?
Ganz einheitlich ist die Sprachpolitik in Deutschland allerdings auch heute noch nicht. Aus Bayern hört man Folgendes: »Dass die Mundart sich nicht ... als Nachteil für ihre Sprecher auswirkt, legen die aktuellen Ergebnisse des zweiten nationalen PISA-Tests nahe. Länder wie Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen, die stark von einer lebendigen mundartlichen Kommunikation geprägt sind, belegten dort die vorderen Plätze« (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus).
In Bayern sind tatsächlich noch Reste einer altertümlichen Hofwirtschaft erhalten. Man lässt die Kinder einfach die Sprachmilch aus dem Kuhstall trinken, ohne sie vorher den üblichen Prozeduren zu unterziehen: dem Homogenisieren (Standardisieren), Pasteurisieren (Keimfreimachen gegen natürlichen Sprach-Verfall) und Vitaminisieren (mit künstlichen Genitiv- und Konjunktivzusätzen versehen, die in der Milch der Kühe dieser Region nicht enthalten sind). Nehmen wir an – das entspricht der Realität –, dass man in Bayern sogar ein bisschen etwas für den Erhalt dieser alternativen »Milchwirtschaft« tut und dass das erfolgreich ist (tatsächlich sind in Dialektgebieten auch Sprachentwicklungsstörungen signifikant geringer), und nehmen wir an, man täte das alles mit ein bisschen System und Methode, so hätte dieses Bayerische Modell im Gegensatz zu dem Nordrhein-Westfälischen den Charakter einer biologischen Sprachwirtschaft. Statt künstlich zu spritzen und chemisch zu verändern, lässt man gewisse Sprech- und Sprachabläufe in begrenztem Umfang einfach so geschehen, wie sie von jeher geschehen sind. Das ist im besten Einklang auch mit Steiner, der forderte, Kinder, die das »Glück des Dialektsprechens« nicht gehabt haben, »an dem Dialekt geradezu lernen zu lassen«.
Mit »biologisch« kann man also den Rückgriff auf Kräfte bezeichnen, die bis zur Technisierung der Produktionsprozesse – in Deutschland etwa bis 1850 (erstmaliges Eingreifen des Staats in die Sprachregelungen und Aufkommen des Kunstdüngers) – noch die einzig wirksamen Kräfte in der »Lebensmittelwirtschaft« waren. Heute können sie jedoch nicht mehr uneingeschränkt wirken, da Luft, Wasser, Klima beziehungsweise Staat, Gesellschaft und Wirtschaft nicht mehr in dem Zustand von 1850 sind. So führte Steiner am Anfang des 20. Jahrhunderts im Bereich des Landbaus die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise ein. Das Doppelwort signalisiert: Es ist biologisch, aber es ist auch eine gezielte Verstärkung dabei, ein »Dynamisieren« der Prozesse.
Was wäre eine biologisch-dynamische Sprach-Wirtschaft?
Könnte man sich nicht auch sprachlich eine biologisch-dynamische Wirtschaftsweise vorstellen? Das würde bedeuten, man würde sich auch auf diesem Gebiet nicht mit den Resten alter erhaltener Wachstumskräfte (Dialekt, Volksgut, Märchen, Goethe) begnügen, sondern man würde sich fragen: Wie können neue Vitalkräfte entstehen? Wie können Wachstumskräfte dynamisch unterstützt werden? Dazu müsste aber Forschungsarbeit geleistet werden. Man müsste lernen, den Kreislauf ganzheitlich anzuschauen. Man müsste das Auftreten und Verschwinden von Redeelementen nicht nur unter linguistischem, sondern auch unter medizinisch-menschenkundlichem Gesichtspunkt betrachten. Man würde also fragen: Was ist an grammatischen Konstruktionen, an Wortverschmelzungen, Neologismen usw. gesund? Nicht: Was ist an ihnen richtig? Aufgrund der zahlreichen Steinerschen Aussagen über »Dialekt« und einer Bemerkung in den »Geisteswissenschaftlichen Sprachbetrachtungen«, dass das Englisch-Sprechen für Deutsche wie Dialekt sei, könnte man zum Beispiel zu der Hypothese kommen, dass die deutschen Sprecher sich heute aus dem Englischen genau die Vitalkräfte holen, die ihnen am Dialekt verlorengegangen sind. Das wäre ein ganz neuer Blick auf die Anglizismen. Hätten wir eine solche ganzheitliche Anschauungsweise, würden wir anfangen, die »Sprachmilch«, die wir den kleinen Kindern reichen, qualitativ zu prüfen, das heißt, nicht einfach »Sprache« sagen, wenn das Kind sprechen lernen soll – diese Unbestimmtheit konnte man sich bisher leisten, weil es ja von selbst funktioniert hat – sondern: Welche Sprache? Was spielt sich da linguistisch ab in den ersten Lebensjahren durch Laut, Rhythmus, Intonation, Stimme in der einen oder anderen Sprachvarietät oder in den vielen schwierigen zweisprachigen Verhältnissen? Also nicht: Wie formt die Sprache den Menschen? Sondern: Wie tut es diese, jene, eine bestimmte?
Gerade weil der natürliche Sprachverfall in den Industriestaaten seit einigen Generationen systematisch verhindert wird, sind die Sprachen anfällig geworden gegen einen neuen Virus, der nicht Sprachverfall, sondern eher so etwas wie Sprach-zer-fall verursacht. Er bewirkt nicht, dass sich einzelne Laute, Worte oder Syntagmen – wie bisher – verändern, sondern dass sie in großen Mengen verschwinden. Sprache transformiert sich nicht in Sprache, sondern in eine neue Spezies von Sprachlosigkeit, ein nonverbales Kommunizieren, wie es sich immer mehr ausbreitet, wohin auch immer wir uns drehen und wenden: Bilder, Videos, Tastenkombinationen, Körpersprache, Kleidung, Stimmgebaren, Gesichtsbemalung, Abzeichen, Symbole, Tattoos, Gruppenverhalten, Händchenhalten, Fußtritte, Mobbing, Aufmärsche, Fingerzeichen und vieles andere, mit dem man etwas »sagen« kann, ohne sprechen zu müssen (oder zu können).
Sprachwissenschaft muss interdisziplinär gedacht werden
Jedoch liegen wir in der Erkenntnis der sprachlichen Umweltveränderungen gegenüber der Erkenntnis der ökologischen weit zurück. Ja, mir scheint, als ob wir noch nicht einmal so weit sind, die richtigen Fragen zu stellen, auch an der Waldorfschule nicht. Zwar ist diese nach wie vor ein Ort besonders intensiver Sprecherziehung, aber ist es progressive Arbeit im Sinne jenes »Dynamisierens«? Forschen wir an den Substanzen der Sprache und entwickeln unsere Methoden dementsprechend weiter? Haben wir neue Antworten in veränderter Zeitlage? Oder pflegen wir einfach das Altbewährte weiter, arbeiten im Grunde also »biologisch«, so gut es geht, so lange die bewährten Methoden noch irgendwie greifen?
Von progressiver Arbeit zeugt nicht, dass wir in der anthroposophischen Spracherziehung und Sprachkunst noch nicht einmal geeignete Grundbegriffe entwickelt haben, um unsere Ziele und Methoden verständlich zu beschreiben. Wir sagen »sprechen«, reden aber über »kommunizieren« (oder umgekehrt). Wir sagen »schreiben«, tun aber so, als redeten wir über »Rechtschreiben« (in Wirklichkeit reden wir über »Buchstabenzeichnen«). Wir sagen »Grammatik«, meinen vielleicht »Sprachstrukturen«, reden aber von »Sprachnormen« oder einem Buch mit der Aufschrift »Grammatik« oder einer Wissenschaft dieses Namens. Wir sagen »Deutsch«, meinen aber »Deutsche Standardsprache« (letzte Auflage 1960), manchmal auch »Muttersprache« und manchmal einfach alles das, was nicht nach Englisch riecht. Sind wir uns selber im klaren, was wir eigentlich tun, warum wir es tun und was wir de facto damit bewirken, dass wir es tun? Den Termini technici nach, die wir verwenden, sind wir erkenntnismäßig noch nicht besonders viele Wege gegangen.
Was fehlt, ist eine anthroposophische Sprachwissenschaft, die nah an der Praxis und für die Praxis entwickelt würde. Begriffsbildungen, Fragestellungen, Beobachtungen, Rückschlüsse und Prognosen – all das sind die Aufgaben einer Wissenschaft. Sie müsste ganzheitlich sein oder, mit einem anderen Wort, interdisziplinär. Sie kann nur aus der Zusammenarbeit der verschiedenen Fachbereiche und Berufe entstehen, die alle mit Sprache zu tun haben: Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen, Pädagogen, Künstler, Therapeuten, Ärzte u.a. Denn aus der einzelnen Berufsperspektive heraus sind immer nur Teile des großen Kreislaufs erkennbar, sozusagen einzelne Abschnitte der Vegetationsperioden. Ob wir es wirklich mit einem Klimawandel zu tun haben und was wir zur Kräftigung der sprachlichen Natur tun können, das kann sich erst aus der Zusammenschau der Phänomene ergeben.
Zum Autor: Nicolai Petersen ist Mitglied eines Arbeitskreises, der sich mit der hier dargestellten Problematik beschäftigt. Fragen und Anregungen können gesendet werden an: nicolai.petersen@t-online.de