Der lange Atem dieser bildgewaltigen Erzählung, die mit sehr wenig Dialogtext auskommt, basiert auf einer komplexen Zeitarchitektur. Die innere Erlebniszeit der Protagonisten und der äußere Zeitverlauf der Handlung werden in kunstvollen Rückblenden miteinander verschränkt. Zu Beginn für den Zuschauer nicht leicht, man muss sich konzentrieren, um nicht die Orientierung zu verlieren. Doch diese Technik des doppelten Zeitstroms vermittelt das Anliegen des Regisseurs: »Die Familien in meinem Film fungieren als Mikrokosmos der chinesischen Gesellschaft der letzten 30 Jahre.« Erleichtert wird die technische Einrichtung durch das grandiose Spiel der beiden Hauptdarsteller. Biographische Zeit verläuft anders als im chronologischen Nacheinander der Geschehnisse: Indem man sich dem Erlebnisrhythmus der Figuren anvertraut, erwacht das Mitgefühl. Die Perspektive der Außenwelt ergibt sich wie von selbst. Eine verblüffende Erfahrung, die man mühelos drei Stunden durchhält. Solange dauert der Film.
Gewiss hat er einige Längen, man hätte ihn auf zwei Stunden straffen können, aber so wäre dem Zuschauer das erspart geblieben, was diese Produktion auszeichnet: Das Aufbringen unendlicher Geduld, Geduld im Widerstand gegen das, was sowohl im einzelnen Menschen als auch in der der Gesellschaft droht: der Verlust von Menschlichkeit. Es könnte keine aktuellere Botschaft geben, ob im Hinblick auf China oder den Westen. Die persönliche Form der Ausdauer im friedlichen Widerstand. Was hierin als Sanftmut erscheint, als Kraft des Ertragens von Leidvollem, ohne innerlich zu zerbrechen, das kann durchaus als östliche Befeuerung westlicher Lebensformen gesehen werden. Die Protagonisten des Films, Yong Mei in der Rolle der Liyun und Wang Jingchun als ihr Mann Yaojun wurden beide als beste Darsteller mit dem Silbernen Bären der Berlinale 2019 ausgezeichnet.
Liyun und Yaojun leben mit ihrem Sohn Xingxing im Wohnheim einer Metallfabrik, in der sie arbeiten, Wand an Wand mit einem befreundeten Paar. Dessen Sohn Haohao ist am gleichen Tag geboren wie Xing. Als Liyun erneut schwanger wird, zwingt man sie, im Rahmen der Ein-Kind-Politik zur Abtreibung. Bald darauf folgt eine Entlassungswelle, da die chinesische Wirtschaft radikal umgebaut wird. Zur selben Zeit kommt ihr Sohn Xing bei einem Unfall im Stausee ums Leben. In diesen Unfall ist der Sohn der anderen Familie verwickelt. Liyun und Yaojun ziehen weg, in eine rückständige Gegend im Süden Chinas, sie adoptieren ein Kind, dem sie denselben Namen geben wie ihrem toten Sohn. Der Versuch, die Lebenswunden zu lindern, durch Rückzug in eine von allem abgeschlossene Innerlichkeit, gelingt natürlich nicht.
Ehe sich am Ende die Schicksalsknoten zum Guten lösen, ist einiges durchzumachen, auch für den Zuschauer. »Bis dann, mein Sohn« ist ein politischer und seelisch nachhaltiger Film.
Bis dann, mein Sohn. Drama, 175 Min., China 2019