Bothmer Gymnastik. Relikt aus alten Zeiten oder Zukunftsimpuls?

Gudrun Rehberg

Die Inhalte des Waldorf-Turnunterrichts sollten jedoch nicht einer solchen Ertüchtigung dienen, sondern sich harmonisch in den Waldorflehrplan einfügen und die Entwicklung der Kinder in ihrem jeweiligen Alter unterstützen. Das waren die Anforderungen an Graf von Bothmer, der als ehemaliger Offizier eher durch das Reiten, Fechten und Tanzen geprägt war.

Steiner war es wichtig, zusätzlich zur Eurythmie ein Bewegungsfach in den Kanon der Fächer aufzunehmen. »Bei der Eurythmie würde es sich darum handeln, dass man eine Art findet, künstlerisch auszudrücken die seelische Dynamik; beim Turnen, dass man den Menschen mit Bezug auf seine Gleichgewichts- und Bewegungsverhältnisse in Beziehung zur Welt darstellt.«1 In der Eurythmie bildet die Grundlage aller Bewegungen das seelisch-geistige Erleben von Sprache und Musik, die ihren künstlerischen Ausdruck in den Gesten, Gebärden und Raumformen finden. Doch was bildet die Grundlage der Bothmer Gymnastik?

Graf von Bothmer entwickelte in den ersten vier Jahren seiner Tätigkeit als Turnlehrer in Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Hanns Strauß 27 gymnastische Übungen (z.T. mit mehreren Variationen) für die Klassen 6 bis 12. Für die Klassen 3, 4 und 5 schuf er Reigen und gymnastische Sprungübungen. Die intensive Beschäftigung mit der altgriechischen Kultur inspirierte ihn dabei.

Steiner begleitete die intensive Entwicklungsarbeit Bothmers und gab den Hinweis, dass in der 1. und 2. Klasse das eigentliche Turnen verfrüht sei. Bis zum 9. Lebensjahr sollten die Kinder in einem eigenständigen Fach in Bewegungsspielen unterrichtet werden, der Turnunterricht sollte in der 4. Klasse beginnen, wobei die 3. Klasse als Übergangszeit gesehen werden sollte.2

Nun kann man sich die Frage stellen, wozu solche einzelnen Übungen eigentlich gut sind und was sie bewirken sollen. Konstruieren wir einige einfache geometrische Formen vor unserem inneren Auge, damit wir der Antwort näherkommen. Beginnen wird mit einer Senkrechten.

Haben Sie diese von oben nach unten gezeichnet oder von unten nach oben? Dann fügen Sie an einer beliebigen Stelle auf der Senkrechten eine Waagerechte hinzu. Es wird unzählige Möglichkeiten für Schnittpunkte geben. Als Drittes fügen Sie den beiden Geraden eine Diagonale hinzu, die sowohl die Senkrechte als auch die Waagerechte schneiden soll. Wenn wir nun noch versuchen, uns in die Qualität der Senkrechten, der Waagerechten und der Schräge einzufühlen, tauchen wir in die gedankliche Substanz der Bothmer Gymnastik ein und das nicht nur mit dem Kopf, sondern wir spüren es auch in den Gliedmaßen.

Erinnern sie sich noch an ihren ersten Bocksprung und vielleicht auch daran, dass trotz Sprungbrett nicht daran zu denken war, irgendwie dieses Hindernis zu überwinden? Oder an Völkerball, bei dem es selten gelang, den Ball einem Mitspieler so abzugeben, dass er ihn auch fangen konnte. Wer aber durch die Übungen der Bothmer Gymnastik gelernt hat, mit den Raumeskräften umzugehen und im richtigen Moment abzuspringen, sich mit den Händen auf dem Bock abzustützen und auch wieder loszulassen, der überwindet ihn. Auch der Ball landet in den Händen des Mitspielers, wenn geübt wurde, innerlich mitzugehen und schon mit der eigenen Intention bei dem anderen zu sein, bevor der Ball ankommt. Die Bothmer Gymnastik kann dem Sportunterricht durch ständiges Einbeziehen des Raumes eine Qualität verleihen, durch die sich der Sportler bewusst vom rein Körperlichen löst.

In der Bothmer Gymnastik offenbaren sich Gesetzmäßigkeiten des Lebendigen. In jeder Übung wird die Mehrdimensionalität sichtbar. Der übende Mensch stellt sich in den Raum und nutzt dessen Kräfte. Es entsteht ein Prozess, der gestaltet ist von Gegensätzen wie oben – unten; vorne – hinten; rechts – links. Gleichzeitig bildet er Formen, die im nächsten Moment im Umkehrpunkt wieder losgelassen und verändert werden. »Im Funktionszyklus der Herztätigkeit ist dies jene Zehntel-Sekunde, in der das Blut durch den Todesmoment seines Stillstandes hindurchgeht. Dieses Ich-Moment der Herztätigkeit verdichtet sich plastisch im Umkehrpunkt der beiden Blutströmungen in der Herzspitze.« So beschreibt es Armin Husemann in seinem Buch: Der musikalische Bau des Menschen. Solche Momente erlebt man auch in den Bothmer-Übungen mit dem ganzen Leib, wenn man sich in den Höhen, Weiten und Ebenen des Raumes bewegt.

Auch im Heilpädagogischen Kurs finden wir Hinweise auf die »Magie der Bewegung«, weil ein Geistiges den Körper bewegt, sowie die Beobachtung, dass das Geheimnis von Bewegung die Gegenbewegung ist. Bezieht man dies auf die Muskeltätigkeit, wird in den Übungen ein ständiges Spiel der Agonisten / Beuger mit den Antagonisten / Strecker deutlich, mit dem Ziel, ein Gleichgewicht zu finden. Es ist nicht das Anliegen der Bothmer-Übungen, einzelne Muskelgruppen besonders zu stärken, sondern den ganzen Menschen lebendig in Bewegung zu bringen.

Ein Beispiel aus meinem Unterricht:

In einer 7. Klasse war eine Schülerin, die mit ihren Brüdern aus Syrien geflüchtet und in die Schule aufgenommen worden war. Epochenweise habe ich dort Bothmer Gymnastik unterrichtet und diese Schülerin nahm mit ihrer Begeisterung für die Übung »Fall in den Raum« die ganze Klasse mit. Immer und immer wieder wollte sie daran üben und es wurde in ihrem ganzen Ausdruck sichtbar, dass sie »über sich hinaus wuchs«. Die Aufrichtekraft, die sie in dieser Übung entdeckte und die sie für sich nutzen konnte, ließ sie »strahlen«.

Allein durch das Tun erspüren die Kinder oder auch die Erwachsenen, worauf es ankommt. Auch das ist kein Geheimnis, dass sich die Seele in der Bewegung offenbart. Haben wir doch alle die staunenden und strahlenden Augen eines Kleinkindes vor uns, wenn es sich zum ersten Mal aufrichtet. Genauso kennen wir Menschen, die durch ihren gebeugten schlurfenden Gang den Kontakt zu ihrer eigenen Aufrechte und ihrer Umgebung verlieren.

Die Bothmer Gymnastik kann den Körper wie ein Instrument stimmen und somit einen Resonanzraum schaffen, in dem und mit dem es möglich ist, Beziehungen zu knüpfen, die weit über die menschliche, irdische Sphäre hinausgehen.

»Du Mensch
Sprache Gottes
Gleiche der Sonne
Ruhe in der Mitte deiner Bewegung«

Inschrift auf dem Sockel der Sonnenuhr der Vaterunser-Kapelle im Ibental

Die Erfahrung und Schulung der eigenen Physis in ihrer Beziehung zum Raum und das Erleben der Wirksamkeit seiner Kräfte, ist das Wesen der Bothmer Gymnastik. Sie dient damit sogar der Entwicklung der Persönlichkeit. Sie kann ein Schulungsweg sein, der die Ichkräfte stärkt, sie lehrt, den eigenen Standpunkt zu finden, Situationen von allen Seiten zu betrachten und auch, sie wieder zu verlassen, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten. Beweglich zu bleiben im Geist und in der Bewegung, sich anzubinden an die kosmisch-räumlichen Kräfte, wirkt heilend und wird in Zukunft immer wichtiger. Daher sollte die Bothmer Gymnastik in jeder Waldorfschule und jeder Lehrerausbildung ihren Platz haben.

Hinweis: 2022 wird die Bothmer Gymanstik 100 Jahre alt. Wir werden dieses Ereignis vom 5. bis 7. August 2022 mit einem großen Bewegungsfestival feiern.

Anmerkungen:

1 Rudolf Steiner: Konferenzen 17. Januar 1923

2 Rudolf Steiner: Seminarbesprechungen, 6. September 1919, nachmittags

Zur Autorin: Gudrun Rehberg, langjährige Klassenlehrerin an der Christian Morgenstern Schule Wuppertal, sechs Jahre als Sonderpädagogin und Bewegungstherapeutin in der Windrather Talschule in Velbert, externe Dozentin am Lehrerseminar in Witten / Annen, jetzt selbstständig tätig als anerkannte anthroposophische Körpertherapeutin in eigener Praxis in Wuppertal.

Literatur: Rudolf Steiner: GA 293, 12. + 13. Vortrag; GA 307, 2.-4. + 9.Vortrag; GA 310, 9. Vortrag; GA 317, 5. Vortrag. Konferenzen: 16.1.22; 17.1.23; 1.3.23; 18.12.23