Brennende Fragen und wahre Philosophie

Siamak Farhur, Caroline Gaus

»Es ist, als ginge jemand in ein Restaurant und erklärte, das Essen sei zwar köstlich, aber das Rezept sei schlecht«. So fasste Marcelo da Veiga, Professor für Kultur- und Bildungsphilosophie und Rektor der Alanus Hochschule, die Situation der Anthroposophie zusammen. In praktischen Lebensgebieten weitgehend geschätzt und anerkannt, hat die Anthroposophie in akademischen Wissenschaftskreisen einen umstrittenen Ruf.

Die deutlich gestiegene Zahl von Publikationen aus dem akademischen Wissenschaftsmilieu bezeugt jedoch, dass Rudolf Steiners Denken inzwischen auch für die universitäre Wissenschaft zum Gegenstand des Interesses geworden ist. Bisheriger Höhepunkt der universitären Forschungsproduktion zu Rudolf Steiner ist Hartmut Traubs Monographie Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners – Grundlegung und Kritik.

Dass das Buch unter Steiner-Forschern eine so lebhafte Kritik ausgelöst hat, lenkt die Aufmerksamkeit in pointierter Weise hin zu jenen methodischen und wissenschaftstheoretischen Differenzen, die das jeweilige Selbstverständnis beider Seiten bisher so unvereinbar erscheinen lassen.

Am 10. Mai 2012 hatte Marcelo da Veiga deshalb zu einem besonderen Treffen nach Alfter eingeladen: Unter dem Motto »Philosophie und Anthroposophie« hatten Traub und 17 weitere internationale Steiner-Experten die Gelegenheit, sich über genau solche Grundsatzfragen auszutauschen.

Wenige Einzelvorträge, ein »Forum« für kurze Statements, vor allem aber ausgedehnte Phasen der allgemeinen Diskussion standen deshalb auf dem Programm, und besonders letztere wurden energisch und lebhaft genutzt.

»Wir werden hier nicht den ganzen Tag lang eine Rezension veranstalten«, betonte da Veiga zur Begrüßung die Dialogbereitschaft sämtlicher Teilnehmer. Wie viel in einem solchen Dialog auf dem Spiel steht, machte sein einführendes Impulsreferat bewusst.

So gestehe Steiner der Philosophie zwar ein systematisches Eigenrecht zu, diese Anerkennung bleibe aber vorläufig vor dem übergeordneten, existentiellen Anspruch der Anthroposophie, mehr als ein bloßes Erklärungssystem für die Gesamtheit der Phänomene zu sein: »Wenn es um brennende Fragen der Existenz geht, dann genügt es mir nicht, zu wissen, was Fichte darüber gedacht hat oder Kant, dann will ich wissen, was ich tun soll«, bringt da Veiga jenes Mehr auf den Punkt, das der universitäre Wissenschaftsbetrieb mitunter vermissen lässt.

Die neuzeitliche, emanzipierte Bewusstseinshaltung der modernen Naturwissenschaften sei für Steiner Vorbild und Ausgangsbasis, die durch die Philosophie ihre weitere Aufarbeitung erfahre; eigentliches Ziel der Anthroposophie aber sei es, neue, weiterreichende Erkenntnisfähigkeiten auszubilden, die nicht allein zu neutraler Erkenntnis befähigen, sondern den Menschen umfassend im Gesamtzusammenhang seines Lebens verankern.

Hartmut Traub hingegen betonte, dass wissenschaftliche Steiner-Exegese nur dann gelingen könne, wenn dessen Philosophie von ganzheitlich-sinnstiftenden Ansprüchen der Anthroposophie zunächst abgeschirmt bleibt: »Meine Frage ist nicht die nach dem Stellenwert von Steiners Philosophie im Rahmen seiner Anthroposophie, sondern die nach der Entwicklung der Anthroposophie aus seiner Philosophie heraus«, fasste Traub sein Anliegen zusammen.

Um als Wissenschaft gelten zu dürfen, muss sich Steiners Denken demnach auch unabhängig von einem umfassend anthroposophischen Deutungshorizont, allein mit Blick auf seine historischen Vorbilder und seine zeitgenössische Konkurrenz bewerten lassen und so in seinem genuin philosophischen Eigenwert bewähren können. Dass dies der Fall ist, daran hat Traub keinen Zweifel, doch werde dies nicht ohne Folgen für das bisherige, anthroposophisch geprägte Steiner-Bild bleiben können.

Folgt man Harald Schwaetzer, so lassen sich an Steiners Auseinandersetzung mit Vertretern des sogenannten metaphysischen Neukantianismus durchaus Übereinstimmungen mit akademisch etablierten Positionen seiner Zeit nachweisen, ohne dass er deshalb darin befangen bliebe: Zentrale Aspekte etwa in Johannes Volkelts Auffassung über den Hervorgang objektiv gültigen Wissens aus der Gewissheit der subjektiven Erfahrung lassen sich demnach auch in Steiners Konzept der Begriffe und Ideen wiederfinden.

»Ein Denker ist nicht dadurch hinreichend erklärt, dass man seine Entwicklung aus den Vorgängern nachweist«, gab Johannes Wagemann gegen eine rein philologisch-textkritische Exegese zu bedenken. Ob die Anthroposophie als bloße Kompilation aus Transzendentalphilosophie und Seelenlehre erscheinen muss, oder ob die Abkehr von einer geschlossenen philosophischen Form sich nicht, statt als Defizit, sogar als überlegene Darstellungsweise herausstellen könnte, ist für Wagemann eine Frage des angemessenen hermeneutischen Zugangs, jener bei aller kritischen Distanz nötigen »wohlwollenden Zuwendung«, die die aktuelle Steiner-Forschung leider nur zu häufig vermissen lasse.

Diese Positionen, aber auch die intensiven Diskussionen ließen erkennen: Das gewachsene Interesse der universitären Wissenschaft und Philosophie an Rudolf Steiners Werk wird sicher einiges zur Annäherung von Anthroposophie und traditioneller Wissenschaft beitragen. Wichtiger als ein fortgesetzter Wettstreit in der Produktion hier anthroposophischer und dort klassisch-akademischer Forschungsergebnisse scheint es jedoch, die grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen und wissenschaftsethischen Differenzen zwischen Anthroposophie und akademischer Philosophie zu reflektieren. So ließe sich eine methodische Basis errichten, an deren Maßstäben sowohl die Anthroposophie als auch der traditionelle Wissenschaftsbetrieb sich legitimer Weise messen lassen könnten.

Dass diese Aufgabe einige Anstrengung fordern wird, war sämtlichen Teilnehmern klar und weckte großen Eifer, sich dieser Herausforderung zu stellen: Das Kolloquium soll fortgesetzt werden.

Siehe auch die Rezension des Buches von Hartmut Traub durch Lorenzo Ravagli

Zum Thema »Wahre« und »falsche« Philosophie siehe auch den Beitrag: »Die wahre Philosophie und ihr Schatten« im anthroblog