Das Christentum des slawischen Ostens, das sich das orthodoxe nennt, hat sich allerdings von Anfang an nicht daran gehalten; eines der Symptome für die Spaltung der europäischen Christenheit in einen östlichen und einen westlichen Kulturstrom, die sich im 20. Jahrhundert in besonders tragischer Weise ausgewirkt hat. Im Westen wurde dem Verbot vor 500 Jahren von Martin Luther unter Lebensgefahr zuwidergehandelt; die Protestierer gegen die römische Theokratie also konnten schließlich die sakrosankten Texte zur Kenntnis nehmen, was zu einer weiteren Spaltung Europas, diesmal einer nord-südlichen, geführt hat. Da aber weit bis ins 19. Jahrhundert hinein nur eine kleine Minderheit des Volkes lesen konnte, blieb eine eigene gedankliche Beschäftigung mit den biblischen Inhalten wenigen vorbehalten. Und im 20. Jahrhundert – dem Jahrhundert der globalen Alphabetisierung - begann das Interesse an der Bibel so rasch zu schwinden, dass heute z. B. nur etwa ein Siebtel der Deutschen ab und zu und ein Prozent unseres Volkes »oft« darin liest. Das populärste Buch der Welt – ca. 5 Milliarden Bibeln und Bibelteile werden pro Jahr weitergegeben, das Buch ist in ca. zweieinhalb tausend Sprachen übersetzt – ist in Wirklichkeit weitgehend unbekannt.
Novalis beschrieb 1799 in seinem Aufsatz »Die Christenheit oder Europa«, wie die Popularisierung der Bibel durch die Übersetzung zur »Vertrocknung des heiligen Sinns« beigetragen habe und dass »die Zeit sich nähert einer gänzlichen Atonie der höheren Organe, der Periode des praktischen Unglaubens«. Die haben wir heute erreicht. Schon die Übersetzung der Evangelientexte ins Lateinische, die sogenannte »Vulgata«, hatte der Schrift von ihrer Tiefe genommen, hatte ihren Charakter als Mysterientexte fast unkenntlich gemacht.
So »drückte der dürftige Inhalt, der rohe, abstrakte Entwurf der Religion in diesen Büchern desto merklicher und erschwerte dem Heiligen Geist die freie Belebung, Eindringung und Offenbarung unendlich«, wie Novalis sich in jenem Aufsatz ausdrückte. Rudolf Steiner hat das am 30. Oktober 1920 erheblich zugespitzt: »Wenn nichts von geistiger Auffassung in die Evangelien hineingelegt wird, so müssen die Evangelien die christliche Seelenverfassung vom Grunde aus zerstören.« (GA 200)
Es liegen mehrere Versuche vor, die Texte für ein modernes kritisches Verstehen aufzuschließen. Nun aber hat Elsbeth Weymann eine Hilfestellung besonderer Art für die Bemühungen um ein Verständnis des Neuen Testaments geschaffen. Ihr Buch »Wege im Buch der Bücher« bringt ausgewählte Originaltexte der Bibel – neu übersetzt und gedeutet.
Es geht anhand des christlichen Jahreslaufes von Advent zu Advent durch kleine Kapitel, in denen jeweils eine signifikante Schriftstelle übersetzt und erläutert ist. Elsbeth Weymann ist sowohl im Hebräischen als auch im Griechischen sehr bewandert und unterrichtet seit vielen Jahren beide Sprachen. Sie bringt die Übersetzungen im Zeilenstil wie moderne Lyrik, um dem Charakter des gesprochenen Wortes »auf der Spur zu bleiben«, Sprechtexte zu formulieren. Zudem bemüht sie sich, die Mit-Aussage der grammatikalischen Form für die Bedeutung des Geschriebenen zur Geltung zu bringen und nichts für das heutige Sprachempfinden zu glätten. Ein weiterer Leitstern ihrer Arbeit ist es, mit der Methode des »Dreifachen Schriftsinns« des Origines einige Texte zu verdeutlichen.
So wird z. B. im Kapitel »Ostern« die Stelle im Johannesevangelium, wo von der zweifachen Um-Wendung der Maria von Magdala am Grabe erzählt wird (Joh.20, 11-18), in ein klareres Licht gerückt. Bei der ersten Wendung nämlich lautet das griechische Verb stréfo (Aoríst Passiv), bei der zweiten strafeísa (Partizip, Aoríst Passiv). Weymann übersetzt 20,14 so: »Als sie dies spricht, wird sie gewendet, nach rückwärts …«, und 20,16: »Spricht Jesus zu ihr: ›Maria‹, wiederum sich umwendend spricht sie: ›Rabbuni‹ …« Dazu erläutert sie: »Diese zweite Umwendung der Maria ist physisch gesehen – nachdem sie sich gerade schon zu dem Christus hin umgewendet hatte – ganz unsinnig. Der Text weist also deutlich auf eine nicht äußere Um-Wendung, sondern auf eine innere Wendung in eine andere Ebene, die sie wie aufwachen lässt für die nun aufleuchtende Erkenntnis: »Rabbuni« – mein Meister.« Damit wird der Zugang zu dem Geheimnis der Maria Magdalena erleichtert, die ja als erster Mensch auf Erden den Auftrag erhielt, das Evangelium von Tod und Auferstehung zu verkünden.
In ihrer Einführung spricht die Autorin besonders über die Funktion der vielen verschiedenen Formen des Partizips im Griechischen und über die Schwierigkeit der adäquaten Übertragung ins Deutsche. Denn »ein Partizip kann immer etwas Prozesshaftes, im Werden Begriffenes, sich Entwickelndes fassen und steht damit im Gegensatz zu einer nach Person und Zeit fixierten Verbform«. (S.15/16) Beispielsweise die Erzählung von der Himmelfahrt Christi (Apg. 1,1-12) bekomme durch den Gebrauch von 15 Partizipien einen »frei fließenden Atemrhythmus«. Wo die Jerusalemer Bibel übersetzt: »… wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen«, schreibt Weymann: »… wird kommen in gleicher Weise, wie ihr ihn geschaut habt, wandelnd in den Himmel!« Eine tiefere Bedeutungsspur taucht dadurch mit auf.
Durch eine solche getreue Übersetzung kommen Nuancen des Gemeinten zur Geltung, die ausgelöscht waren für unser Verstehen und die die von der Tradition ausgetrockneten Texte wieder frischer und tiefer erscheinen lassen. Ganz bedeutsam für das Verständnis der Christus-Religion sind z.B. die Erläuterungen zu der Pfingsterzählung (Apg. 2,1-12), wo wir erfahren, dass an entscheidender Stelle die weibliche Form für »Geist, Atem, Hauch, Wind«: ‚hä pno’ä’ erscheint. Was in der Jerusalemer Bibel steht: »Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt«, heißt in Weymanns Übertragung so: »Und es geschah plötzlich aus dem Himmel ein Echo wie von einem mächtig hereinbrechenden Geist …« Da sind wir wahrhaftig in einer anderen geistigen Welt, und unser denkendes Vermögen wird – durch eine den Text begleitende Anmerkung - herausgefordert, den »Heiligen Geist« weiblich zu denken und einen Zusammenhang zu ahnen mit dem Begriff der Sophia.
Eine vollständige Evangelienübersetzung nach solchen Maßstäben wäre wünschenswert, um eine zeitgemäße »christliche Seelenverfassung« überhaupt zu ermöglichen. Man möchte der Autorin zu einem solchen Werk Mut machen: Evangelientexte ungeglättet – noch ungeglätteter! –, herausfordernd, Ärgernis erregend, Denk- und Glaubenskräfte neu vereinend.
Elsbeth Weymann: Wege im Buch der Bücher, geb., 180 S., EUR 22,–, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2011