Bühne radikal

Ute Hallaschka

Der tägliche Stundenplan ist prallvoll. Unterricht in Tanz, Schauspiel, Gesang, Fechten, Dramaturgie, Bühnenbild, Kostümkunde, Licht, Tontechnik und Marketing, dazu kommen Gemeinschaftsaufgaben wie Raumpflege, Instand­haltung und Mittagessen kochen. Es wird eine Performance entwickelt und aufgeführt und als Hauptwerk ein selbst gewähltes und einstudiertes Theaterstück. Auch die Organisation der abschließenden Dreimonatstournee liegt ganz in den Händen der Teilnehmer.

TheaterTotal beginnt die Entdeckungsreise damit, Begabungen und Fähigkeiten im künstlerischen, handwerklichen, wirtschaftlichen und sozialen Handeln zu erkunden. Hier gilt es Engagement, Ausdauer und Teamgeist zu entwickeln, in der Verwirklichung kultureller Projekte zu lernen, wie man Verantwortung trägt. Das sagt sich so leicht – aber wie man sie wirklich so trägt, dass man individuell zu ihr stehen kann, das erfährt man im Spiel miteinander. Der spielerische Umgang mit Verantwortung wird ernsthafte Freiheitsschulung. Das lustvolle Engagement ergibt sich aus der Versicherung, dass man sich gegenseitig vertraut. Auf der Bühne kann ich den andern nicht fallen lassen, ohne selbst zu stürzen. Wird einer an die Wand gespielt, sehen es alle. Ist einer ein Egomane, dann kann er ja den größenwahnsinnigen Aufschneider solange spielen, bis er sich selbst satt hat – oder er kündigt ihm gleich das innere Engagement und probiert mal eine andere Lebensrolle – und gewinnt eine neue Perspektive im Umgang mit sich selbst und den andern.

Aus dem Jugendprojekt ist inzwischen eine hochkarätige Unternehmung geworden. Das Bochumer TheaterTotal gestaltet Projekte für Kunst, Wirtschaft, Politik und Bildung, wurde vielfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit der mehrfachen Einladung zum Theatertreffen der Jugend bei den Berliner Festspielen und einem Auftragswerk für die Ruhrtriennale 2010.

Wer ist nun die Frau hinter all dem? Muss man sie sich nicht als machtvolle Inspiratorin dieses ganzen Bewegungsap­parates vorstellen? Weit gefehlt. Wir sitzen in einem Kirschbaum, dessen Früchte gerade reifen. Der Balkon des ehemaligen Fabrikgebäudes, in dem TheaterTotal residiert, ragt in die Baumkrone. Sie geht erstmal Kaffeekochen, unten ist ein Kindergarten untergebracht, die spielenden Kinder im Hof winken herauf. Knapp, klar und energisch werde ich verständigt, wir hätten eine Stunde Zeit. Danach muss Barbara Wollrath-Kramer zur Probe.

Sie macht überhaupt nicht den Eindruck, als hätte sie übermäßiges Interesse, über ihr Lebenswerk zu plaudern. »Das können Sie alles im Internet nachlesen«, sagt sie. Schließlich hat sie zu tun und vermutlich hat sie damit Recht. Geistesgegenwart zeigt sich im Werk – wenn der Initiator darin auf- und nicht untergeht, dann ist es gut. Die Projektidee entwickelte sich aus ihrem eigenen Leben. Das, was sie selbst als professionelle Schauspielerin und Regisseurin an Lebenspotenzial im Spielerischen erfahren hat, investiert sie nun existenziell in die Ausbildung anderer. Also füge ich mich in das augenblickliche Erleben der Idee von TheaterTotal, in die radikale Energie der Spielleiterin, statt sie mit Fragen einzuengen.

Ich begleite sie zur Probe und sehe eine Regisseurin an der Arbeit, die streng und behutsam, eindringlich und impulsiv, vorbildend und nachdenklich ganz und gar da ist. Ihrem Gegenüber widmet sie sich so, dass man sieht und nicht theoretisch erörtern muss: Kunst kann den Menschen jederzeit zur eigenständigen Bildung bewegen, wenn man sie lässt. Sie kann ihm zur »Ein-« und Ausbildung seiner Persönlichkeit verhelfen, wenn man sich tatsächlich und tatkräftig in ihren Dienst stellt, mit Respekt vor dem Leben des andern. Dieser Idee Leben zu verschaffen, dazu ist Barbara Wollrath-Kramer da.

Kontakt: TheaterTotal, Hunscheidtstr. 154, 44789 Bochum, Tel.: 0234-9731673, E-Mail : info@theatertotal.de | www.theatertotal.de