Chronik der Krise – oder: Wie die globale Spekulation uns zugrunde richtet

Roy Marioth

Dennoch schien die Weltwirtschaft stabil. Dass an den Börsen einige Märkte als »überhitzt« galten, wurde vermerkt, aber nicht näher untersucht. Die Ökonomen schwärmten von der Stabilität des Wachstums – die Dot-Com-Blase des Jahres 2001 und der Zusammenbruch des sogenannten »Neuen Marktes« waren fast vergessen. Wenn also die Spekulanten in London und New York auf ihren überteuerten Immobilien sitzen bleiben würden, wäre das nur eine Marktbereinigung, eine willkommene dazu, denn es träfe die Richtigen und das hätte weder mit der Weltwirtschaft noch mit uns etwas zu tun. Wie man sich irren kann!

Aus Schulden werden Wertpapiere 

Dass die Schulden von ein paar tausend Leuten, zusammengefasst zu einem »Wertpapier«, ein weltweit handelbarer Titel werden konnten, ist eine der Merkwürdigkeiten dieses Spieles und eine der Grundlagen der Krise. Ein Topf voller schlecht bewerteter Schuldscheine, sogenannte Subprime-Papiere, war zu einem begehrten Handelsgut geworden; jeder Banker, der nicht damit handelte oder nicht selbst solche Papiere herausgab, galt als Dummkopf.

Und Weiteres kam hinzu: Dass sogenannte »Private Equity«-Firmen zu Hunderten grundsolide Betriebe aufkauften, sie nach Strich und Faden ausplünderten und den Rest billig weiter verhökerten oder in die Insolvenz gehen ließen. Geld war im Überfluss vorhanden, die Zinsen niedrig und Fragen wurden kaum gestellt. Ein kleiner Club von Rating-Agenturen gab all dem seine Gütesiegel und Millionen von Anlegern kauften im Vertrauen darauf Fonds-Papiere, die schon bald aus gutem Grund nichts mehr Wert waren. Das alles wurde schon zur Jahreswende 2006/2007 zunehmend kritisch diskutiert. Und dennoch, obwohl wir gewarnt waren, gingen wir im Sommer 2007 sehend ins Desaster. 

Die Blase platzt 

Mitte 2007 gingen DAX, Nikkei und Dow Jones, augenscheinlich recht plötzlich, auf Talfahrt. Was war passiert? Kredite waren geplatzt, Banken liehen untereinander kein Geld mehr oder forderten dafür, quasi über Nacht, mehr Zinsen. Die Zahnräder der Finanzmarkt-Maschinerie griffen plötzlich nicht mehr ineinander.

Ausgerechnet Institutionen, die uns bislang als Hort der Stabilität und als Garanten der Sicherheit galten, strauchelten als erste: staatliche und semi-staatliche Institute wie die West-LB und die IKB, eine Tochter der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau, verloren binnen weniger Wochen bis zu 80 Prozent ihres Wertes. Sie hatten sich mit amerikanischen »Subprime-Papieren« verspekuliert – Papiere, die sie teuer gekauft hatten und die nun nicht einmal mehr gehandelt wurden.

Allein die IKB brauchte zu ihrer Rettung jetzt sofort rund zehn Milliarden Euro vom deutschen Steuerzahler – doch egal, gerettet werden musste sie. Schließlich sollte aus der Bankenkrise ja keine Wirtschaftskrise werden. 

2007 wurde der deutsche Finanzminister mit der Aussage zitiert, dass es keinen Grund zur Nervosität über die Realwirtschaft gäbe – die Aussichten für 2008 seien günstig. Immerhin wurde diese Haltung angezweifelt, denn der Kurssturz hatte an den internationalen Börsen gut 3,8 Billionen Dollar vernichtet. Langsam verlor man den Überblick. 

Die Krise zeigt Humor 

Ab diesem Moment verwandelte sich die Krise in ein eigenständiges Subjekt und fing das Denken an: Wo soviel Geld verbrannt werden kann, da muss doch noch mehr sein! Im Januar 2008 offenbarte sich das Subjekt in Gestalt eines jungen französischen Aktienhändlers von der Societé Generale. Jerome Kerviel wettete auf steigende Aktienkurse; er setzte 50 Milliarden Euro, praktisch den gesamten Wert seiner Bank. Die Kurse sanken, die Bank verlor fünf Milliarden und Kerviel seine Freiheit.

Auch sonst fing das Jahr turbulent an. Tausende reiche Deutsche hatten Steuern hinterzogen, der Bundesnachrichtendienst kaufte eine Liste mit den Namen, der  Chef der Post, Klaus Zumwinckel,  trat zurück und Liechtenstein und andere Steueroasen sahen sich arger Kritik ausgesetzt. Die Krise zeigte Humor: Jetzt wo das Geld weg war, holte man es sich bei den Steuerhinterziehern wieder zurück.

Der Beginn des Jahres 2008 war auch die Zeit für einen ersten Kassensturz. Allein elf große amerikanische und europäische Banken hatten im zweiten Halbjahr 2007 mehr als 106 Milliarden Dollar abschreiben müssen. Die Aktienkurse fielen in den ersten Januarwochen 2008 weltweit um 20 bis 25 Prozent. 

Die »gefährlichste Firma« der Welt 

Im März dann das erste reale Opfer: die Investmentbank Bear Stearns musste an einen Konkurrenten notverkauft werden; der amerikanische Staat stand für 30 Milliarden Verlust ein. Geradezu revolutionär forderte der IWF mehr Kontrolle und eine Regulierung der Finanzmärkte. Um Liquidität zu schaffen, verkauften viele Banken eigene Aktien an die noch liquiden Staatsfonds in Nahost und China.

Mitte September 2008 war Lehman Brothers pleite. Dass man Lehman abrupt in Konkurs gehen ließ, wurde wenig später als »Jahrhundertfehler« gesehen. Eine »Kernschmelze des Finanzsystems« konnte nur mit Mühe verhindert werden. Nur kurze Zeit später stand AIG, der größte Versicherungskonzern der Welt vor dem Abgrund. »Die gefährlichste Firma der Welt« nannte die Süddeutsche Zeitung AIG später –  18 Milliarden Miese in sechs Monaten – das war zuviel – doch gemach, im laufenden Jahr 2008 sollten noch einmal gut 90 Milliarden Dollar dazukommen. Die amerikanische Regierung zog die Reißleine: AIG wurde verstaatlicht – wie einige Tage zuvor schon die Hypothekenbanken Freddy Mac und Fanny Mae. Die Notenbanken in Europa und Japan stellten 150 Milliarden Euro bereit, damit die Kapitalmärkte nicht zusammenbrachen. In der Folge kamen auch die Aktienkurse erneut ins Rutschen und: Deutschland befand sich jetzt offiziell in einer Rezession; im 2. und im 3. Quartal 2008 schrumpfte die Wirtschaftsleistung.

Ende September der nächste Schock: Die Hypo Real Estate verlor an einem einzigen Tag 75 Prozent ihres Wertes. Eine Tochter, die erst vor einem Jahr für 5,7 Milliarden Euro übernommene Depfa-Bank, hatte sie in die Krise gerissen. 35 Milliarden Soforthilfe wurden gebraucht; 27 davon trug der deutsche Staat. 102 Milliarden Euro Rettungshilfe und ein Untersuchungsausschuss sollten es am Ende sein. 

Sozialismus für Wenige 

In den USA versuchte man Anfang Oktober den Befreiungsschlag: Ein 700 Milliarden Dollar-Paket sollte die Finanzmärkte vor dem Kollaps bewahren. Die Berliner tageszeitung nannte das »Sozialismus für wenige«.

64 Milliarden Euro hatte der deutsche Staat bis Anfang November 2008 für die Unterstützung von fünf Banken bereitgestellt: Hypo Real Estate, Sachsen LB, IKB, Bayern LB und West LB waren die Kandidaten; ihre Chefs waren öffentlich zerknirscht und ließen sich nichtöffentlich ihre Erfolgsboni überweisen. Misserfolgs-Mali waren im System nicht vorgesehen. Mitte Oktober schon musste der gesamte Finanzmarkt staatlicherseits mit 500 Milliarden Euro abgesichert werden. Der »Finanzmarktstabilisierungsfonds« stellte zum einen eine Bürgschaft für Kredite dar, die die Banken sich gegenseitig gaben, zum anderen sollte er den Instituten ihre »faulen« Kreditpapiere abkaufen. 

Die Finanzkrise wird zur Währungs- und Wirtschaftskrise 

Nur eine Woche später, Mitte November 2008, wurde die Finanzkrise zur Währungskrise. Pakistan, Ungarn, die Ukraine und Island brauchten Geld vom IWF, um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Der Jahreswechsel auf 2009 und die ersten Wochen des neuen Jahres zeigten, dass die Krise in der Realwirtschaft angekommen war. Mittelständler wie Märklin und Schiesser gingen in die Insolvenz, GM wollte seine Tochter Opel nicht mehr haben und man fürchtete die Stilllegung ganzer Werke. Conti und Scheffler standen nahe am Zusammenbruch.

Die Furcht vor einer großen Depression griff um sich; die wichtigsten Aktienindizes waren zumindest zeitweise um gut die Hälfte gefallen, die Industrieproduktion um gut zehn Prozent und der Welthandel gut 15 Prozent zurückgegangen. Allein in Amerika gingen rund 200 Banken pleite, Dutzende in Europa.

Im Frühjahr wurde die Liste der Firmen immer länger, die Staatshilfen beantragten. Die Auslastung der deutschen Industrie hatte ein historisches Tief erreicht. Nur weil hunderttausende Kurzarbeit leisteten und dies von der Bundesagentur für Arbeit ordentlich bezuschusst wurde, stieg die Zahl der Arbeitslosen nur gering.

Es sei die schlimmste Rezession der Nachkriegsgeschichte konstatierten die Ökonomen. »Kreditklemme« war eines der politischen Schlagwörter des Jahres. Gemeint ist damit das Verhalten der Banken, die sich eher wie Räuber verhielten. Nach der Devise »Take the money and run« wurden die praktisch kostenlosen Kredite der EZB und der Bundesbank gerne genommen, die faulen Kredite in den Finanzmarktstabilisierungsfond ausgelagert und trotzdem liehen die Banken untereinander und auch ihren Kunden kaum noch Geld. Bei den Kunden war eh’ nichts zu verdienen und untereinander –, je nun, warum sollte denn einer dem anderen trauen? Aber es gab ja viel billiges Geld und deshalb fingen die alten Geschäfte wieder an. Fast 1,5 Billionen Euro wurden 2009 wieder in genau solche Finanzprodukte investiert, die durch die Krise in Verruf geraten waren. »Die Jagd nach Rendite geht wieder los« meinte der Präsident des Deutschen Sparkassenverbandes,Heinrich Haasis, und so produzieren sie wieder das, was sie gerne produzieren, weil das viel Geld bringt: Blasen! 

Die nächste Blase platzt bestimmt 

So macht man »Carry Trade«, leiht sich Geld in Ländern mit niedrigen Zinsen und investiert es in Währungen mit hohen Zinsen. Oder man setzt wieder auf Aktien – seit Monaten explodieren die Börsen geradezu. Rohstoffe aller Art sind auch sehr gefragt: Beim hohen Goldpreis noch einsteigen? - Warum nicht, vielleicht steigt der Preis ja weiter. So geht Spekulation, so entstehen neue Blasen. Sogar auf einigen Immobilienmärkten steigen die Preise jetzt wieder. Doch ein Problem bleibt: Das viele Geld muss an den Bürger gebracht werden, weil das alleinige Rotieren im System auf Dauer nicht funktioniert. Ohne Konsum kein Wachstum. Also muss der Bürger sich was leisten, am besten ein Haus. Das Geld dazu wird er sich leihen müssen, die Zinsen sind ja niedrig …