Circo Ponte das Estrelas

Sebastian von Verschuer

Wir warten auf 20 Brasilianer im »Oberstübchen« der Rudolf Steiner Schule Hamburg-Wandsbek: Zwei Kleinbusse sind schon eingetroffen, einer ist noch unterwegs. Es herrscht eine träge Mittagspausenstimmung: Die Kinder und Jugendlichen haben in den Bussen alle geschlafen. Fast 20 Aufführungen an zwölf Aufführungsorten, dazu viele Workshops, zuletzt heute morgen in Lübeck, fordern ihren Tribut. Dann heißt es, die Busse entladen: Kisten mit Requisiten, Elemente für eine Sichtschranke quer über die ganze Bühne, aber auch große Koffer auf Rollen für die persönlichen Dinge. Übernachtet wird diesmal in einer Gästewohnung: wenig Platz für 20 Leute, dafür mit Teeküche und Badezimmer doch recht praktisch, und alle bleiben zusammen, das ist wichtig. Bei dem Rest Tageslicht spielen einige noch draußen Fußball, dann wird die Bühne eingerichtet … Hoppla, die Bühne hat eine Neigung zum Zuschauerraum, da bleibt kein Ball einfach liegen … dafür sind die Kreiselspiele im Zuschauerraum besonders gut zu sehen … aber Suzana auf dem Balancierbrett, dem Rola Bola? Nochmal üben! Dann Abendessen im »Oberstübchen«. Am nächsten Morgen die größte Aufführung der Tournee vor mehr als 800 Schülern!

Alle waren beeindruckt und begeistert: Jonglieren, Seilspringen, Gummitwist, Einräder und Hochräder, Clowns, wilde Tiere, Rola Bola, Musik und Gesang, alles war dabei, samt einer brasilianisch gespielten, aber in ihrer Aussage allgemein verständlichen Geschichte, in der ein Jugendlicher, vom Spielen am Computer isoliert, sich doch zuletzt den gemeinsamen Spielen der Kindergruppe anschließt und von seiner Sucht befreit wird. Ein Motiv waren traditionelle Kinderstraßenspiele, wie beispielsweise die Kreisel, die an der langen Schnur zu Boden geworfen werden und dann mit ihr gezogen und gelenkt werden können oder Abzähl- und Hüpfspiele. Die Aufführung zeigte nach jeder Nummer eine bühnenfüllende Formation in farbenfroher Schönheit. Livemusik mit Violine, Gitarre, Fagott, Flöte und Trommeln in wechselnder Zusammenstellung erfüllte den Zuschauerraum. Höhepunkte waren aber die für einen Zirkus typischen Spannungsmomente: auf einem Brett balancieren, das auf einem Basketball in jede Richtung abrollen kann, oder die Fahrt auf dem Einrad übers Seil. Leistungen, die durchaus nicht immer auf Anhieb glückten. Aber beim zweiten oder dritten Versuch, wenn schon alle die Luft angehalten hatten, klappte es! Die Clowns begeisterten besonders die jüngeren Kinder.

Ein Fünfzehnjähriger spielte den großen Clown, ein kräftiger Junge, der auch in vielen anderen Nummern durch leise, aber klar und entschieden gerufene Kommandos die Abläufe koordinierte. Er steckte mit seiner ganzen Persönlichkeit in seinen Rollen und strahlte Können und Sicherheit aus. Als Oberstufenlehrer musste ich mir eingestehen, dass ich an den Schülern, die ich unterrichte, nur selten dieses Maß an Konzentration und Tatkraft erlebe. Ein Kollege brachte es nach der Aufführung auf den Punkt: »Selten habe ich so direkt die angewandte Menschenkunde gesehen!«

Zirkus aus der Favela

Außer der Aufführung gab es noch einen kleinen Vortrag für die Oberstufe und drei Workshops für die fünften und sechsten Klassen. Bei dem Vortrag erzählte Regina, wie das Zirkusprojekt aus der Betreuung von Favelakindern in einer Kindertagesstätte am Stadtrand von São Paulo entstanden ist. Wenn die Kinder der Kindertagesstätte entwachsen waren, brauchten sie weiterhin Begleitung, um der Kriminalität und Perspektivlosigkeit ihrer Familien zu begegnen und selbstständig zu werden.

Geübt wird vor oder nach der Schule, denn die Schulen dort unterrichten im Vormittags-, Nachmittags- und Abendbetrieb jeweils unterschiedliche Klassenstufen. 14-tägig proben alle gemeinsam am Wochenende und in den Winterferien (Juli) und im Oktober geht es jedes Jahr mit einem neuen Programm auf Tour in São Paulo und Umgebung. Nach zehn Jahren gab es nun erstmals eine Tournee in Deutschland mit mehr als 20 Aufführungen an 16 verschiedenen Orten, als Dank auch an die Freunde und Sponsoren aus Deutschland, deren Spenden diese Arbeit überhaupt erst möglich machen. Mit dem Zirkus sind auch handwerkliche Aktivitäten für Bühnenbau und Kostüme verbunden, aber auch Hausaufgabenhilfe, Musik- und Kunsttherapie gehören zum Alltag. Im Januar konnte durch Spendengelder sogar ein Haus mit Grundstück erworben werden, das nun zur Heimat für den Zirkus wird. Alle hier tätigen Artisten sind akut gefährdet durch ihre gewalttätige häusliche Umgebung. Das ist ihnen nicht anzumerken. Sie brennen für ihre gemeinsame Sache, fühlen sich in der Gruppe zu Hause und haben ähnliche Freuden, Ängste, Wünsche und Hoffnungen wie alle Heranwachsenden. Am Ende dieser Reise wollten sich einige noch ihren Traum erfüllen, ein eigenes Einrad zu besitzen: Es wurde fleißig bei eBay geschaut, ob sich dort für wenig Geld eines ersteigern lässt, denn in Brasilien sind die Einräder viel teurer!

Gemeinsam Seilspringen

Zum Abschluss gaben die brasilianischen Gäste uns etwas von ihrem Können weiter. 13 Artisten, vier Betreuer und 36 Schüler unserer Schule versammelten sich in einem großen Kreis. Eine der Jugendlichen, Poli, zeigte uns ein paar Tanzbewegungen für die Anfangsrunde und dann ging es los mit dem Springseilspringen der Reihe nach. Alle kamen dran, Schüler und Artisten gemischt, mit einem großen Seil und dann auch gleich mit zwei ineinander schwingenden Seilen, das ging! Danach verteilte man sich auf vier Stationen: Kreiseln, Rola Bola, Jonglieren, Teller drehen und Einradfahren. Überall waren die brasilianischen Jugendlichen zusammen mit den Kindern, zeigend, helfend, spielend, anleitend … Was die alles können! Wir haben sie bewundert! Ich bewundere auch die drei Leiterinnen des Projektes, Regina, Katrin und Celia, die mit klarer, ruhiger Führung und mit Kreativität und Herzlichkeit diese Zirkusfamilie zusammenhalten und den Kindern und Jugendlichen wunderbare Erfahrungen ermöglichen. Welche Perspektive haben diese Jugendlichen? Sie werden die Schule abschließen und möglichst auch eine Lehre oder ein Studium machen. Einige von ihnen lernen so gut Deutsch, dass sie anschließend ein soziales Jahr in Deutschland machen.

Zum Autor: Sebastian von Verschuer ist Oberstufenlehrer an der Rudolf Steiner Schule Hamburg Wandsbek

www.circopontedasestrelas.com