Seuchen-Epoche

Markus Finke

Die Corona-Krise mit dem völligen Stillstand des öffentlichen Lebens, dem gespannten Verfolgen der neuesten Infektionszahlen, den täglichen Sondersendungen im Fernsehen und den ungewissen Zukunftsaussichten war für mich ein eindrückliches Erlebnis. Als Historiker brachte mich diese außergewöhnliche Situation dazu, mir die Frage zu stellen, wie sehr die Menschheit in der Vergangenheit schon mit Infektionskrankheiten zu kämpfen hatte. Die Thematik fand ich schließlich so spannend, dass mir die Idee kam, im Geschichtsunterricht der 11. Klasse eine Epoche zur Seuchengeschichte der Menschheit zu halten.

Die Krankheit, mit der eigentlich alle Jugendlichen bestimmte Vorstellungen verbinden, ist die Pest. Da wir deren Auftreten und Folgen schon während der Mittelalter-Epoche (der ersten Geschichtsepoche in der 11. Klasse) behandelt hatten, spielte sie im Rahmen der zweiten Epoche keine große Rolle. Stattdessen gingen wir in jedem Hauptunterricht auf zwei andere bekannte oder mittlerweile weniger bekannte Infektionskrankheiten wie zum Beispiel Pocken, Cholera, Tuberkulose, Lepra oder Polio ein. Zuerst besprachen wir die Erreger der jeweiligen Krankheit. Hier konnten die Schüler ihr Wissen um Viren und Bakterien aus der vorangegangenen Biologie-Epoche anwenden. Auch als es um Inkubationszeit, Symptome, Krankheitsverlauf und Behandlungsmöglichkeiten ging, hatte der Unterricht fächerübergreifenden Charakter. Historisch wurde es wieder, als wir uns die Frage stellten, wie lange die jeweilige Krankheit schon existiert. Die Schüler staunten über die Tatsache, dass es viele Krankheiten schon seit dem Altertum gibt. So zeigt eine mehr als dreitausend Jahre alte ägyptische Steintafel wahrscheinlich einen Poliokranken. Lepra wurde schon in viertausend Jahre alten Funden in Indien nachgewiesen. Manche Krankheitsbeschreibungen des Alten Testaments wie zum Beispiel die sechste ägyptische Plage sind mit den Pocken in Verbindung gebracht worden. Andere Pandemien wie die Spanische Grippe oder Aids tauchten dagegen erst im 20. Jahrhundert auf.

1892 – Cholera in Hamburg

Im Anschluss an die medizingeschichtliche Betrachtung der Krankheit gingen wir exemplarisch spezifischen Fragestellungen nach. Beim letzten großen Ausbruch der Cholera in Deutschland, der Hamburger Choleraepidemie von 1892, die weit über 8.000 Todesopfer forderte, untersuchten wir, warum es zum Ausbruch der Krankheit kam und welche Fehler im Umgang mit der Epidemie gemacht wurden. Der Choleraerreger war möglicherweise durch Einwanderer aus Russland nach Hamburg gelangt. Die elenden Wohnbedingungen der Gängeviertel mit ihren engen Gassen, schmutzigen Hinterhöfen, feuchten Kellerwohnungen und mangelhaften sanitären Einrichtungen boten dem die Krankheit auslösenden Bakterium Vibrio cholerae einen ähnlich optimalen Nährboden wie das Elbwasser, das durch den heißen und trockenen Sommer ungewöhnlich warm war. Für die Bewohner der ärmeren Stadtgegenden gab es auch noch keine Filtrieranlage, sodass sie das Trinkwasser ungereinigt aus der Elbe entnahmen. Nach den ersten Cholerafällen blieben geeignete Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheit zunächst aus, da man wirtschaftliche Einbußen befürchtete. Offizielle Vertreter der Stadt spielten die Gefahr durch die Krankheit sogar herunter, nachdem der Nachweis des Erregers durch Isolierung der Bakterienkultur erbracht worden war. So konnte Vibrio cholerae auf Auswandererschiffen auch nach New York gelangen. Nach weiter steigenden Opferzahlen reagierten die Behörden mit Maßnahmen wie dem Aufstellen von Verhaltensregeln und dem Verteilen von abgekochtem Wasser. Erst auf Robert Kochs Anraten, der als Vertreter der Reichsregierung vor Ort war, kam es schließlich zum »Lockdown« und zur erfolgreichen Bekämpfung der Seuche. Schulen wurden geschlossen, Handel und Verkehr kamen zum Erliegen, Desinfektionskolonnen reinigten Häuser und Straßen mit Chemikalien. Insgesamt wütete die Seuche zehn Wochen lang in der Hansestadt. 16.596 Menschen erkrankten, von denen 8.605 sterben. Zwar gab es auch in anderen deutschen Städten Cholerafälle, doch keine Epidemie forderte so viele Opfer wie die in Hamburg, da andernorts die hygienischen Bedingungen wesentlich besser waren. Robert Koch kommentierte die Zustände in Hamburg mit dem inzwischen berühmt gewordenen Satz: »Ich vergesse, dass ich in Europa bin«. Angesichts der verheerenden Ausmaße der Hamburger Choleraepidemie trafen die Behörden zahlreiche Maßnahmen, um eine erneute Epidemie zu vermeiden. Ein neues Filtrierwerk der Hamburger Wasserwerke wurde 1893 fertiggestellt. Im gleichen Jahr nahm eine Müllverbrennungsanlage ihren Betrieb auf. Die Gängeviertel wurden saniert. Zudem erließ die Stadt neue Baugesetze, um saubere Wohnverhältnisse zu fördern und Einwanderer wurden in geräumigeren und hygienischeren Unterkünften untergebracht. Bei der Behandlung der Hamburger Choleraepidemie konnten die Schüler Parallelen zur Corona-Pandemie ziehen und im Zusammenhang mit Industrialisierung, Bevölkerungsexplosion, Städtewachstum und sozialer Frage ihr Wissen aus früheren Epochen zur Anwendung bringen.

Infektionen – gestern und heute

In ähnlicher Art und Weise befassten wir uns mit der Typhus-Epidemie von Hannover aus dem Jahr 1926. Als wir hier untersuchten, welche Fehler Bürgermeister und Behörden beim Ausbruch der Krankheit machten, begegnete uns das schon früher behandelte Parteienspektrum der Weimarer Republik wieder. Der historische Kontext des Ersten Weltkriegs spielte eine große Rolle bei der Betrachtung der Spanischen Grippe, da die Krankheit durch kontinentübergreifende Truppenbewegungen sich zu einer Pandemie ausweitete. Als wir uns mit dem Milzbrand beschäftigten, untersuchten wir, warum es 1979 zum Unfall von Swerdlowsk kam. Damals gelangten aus einem sowjetischen Rüstungsbetrieb für biologische Waffen Milzbrand-Sporen in die Umgebung. Dies führte dazu, dass über 60 Menschen an der Krankheit starben. Neben der speziellen historischen Fragestellung konnten die Schüler hier ihr Wissen über den Kalten Krieg anwenden. In dieser Phase des Unterrichts blickten wir aber nicht nur in die Neuzeit. Bei der Betrachtung der Malaria befassten wir uns mit der These, ob die Krankheit möglicherweise beim Untergang des Römischen Reiches eine Rolle gespielt hat und welchen Beitrag die Archäologie zu Fragestellungen dieser Art leisten kann. Ergänzt wurde der Unterricht durch Kurzreferate von Schülern, die Biografien und Leistungen von bedeutenden Medizinern wie zum Beispiel Galenos von Pergamon, Paracelsus, William Harvey, Robert Koch und Albert Schweitzer vorstellten. Immer wieder konnten wir Querverbindungen zur aktuellen Situation rund um das Coronavirus ziehen. Die Übertragung des Virus von Tier auf Mensch, die für die Entstehung von Covid-19 verantwortlich gemacht wird, begegnete uns auch bei der Betrachtung der Spanischen Grippe. So wie heute auch war es beim Ausbruch dieser Krankheit mancherorts Pflicht, in öffentlichen Verkehrsmitteln Atemschutzmasken zu tragen.

Die ersten Beatmungsgeräte (die sogenannten »eisernen Lungen«) wurden entwickelt, um Polio-Patienten, deren Atemwege dauerhaft geschädigt waren, ein Überleben zu ermöglichen. Bei der Betrachtung dieser Krankheit begegnete uns auch das Wetteifern zwischen Staaten beziehungsweise Staatsformen, die für sich in Anspruch nehmen, die Krankheit besser in den Griff zu bekommen als andere. Im Zuge der Verbreitung von Aids entstand eine Verschwörungstheorie, nach der das HI-Virus in einem US-amerikanischen Labor entwickelt wurde. Auch das fieberhafte Suchen nach einem Impfstoff ist bei der Geschichte dieser Krankheit zu beobachten. Neben den Bezügen zur Corona-Krise konnten wir auch den Blick auf außereuropäische Gegenden lenken. Wir sprachen zum Beispiel über Ebola in Afrika, Choleraausbrüche im jemenitischen Bürgerkriegsgebiet und Tollwut in Indien. Generell brachten die Schüler dem Unterrichtsgegenstand großes Interesse entgegen. Die Aktualität des Themas tat dazu sicher ihr übriges. Interessanterweise waren die Infektionskrankheiten vor der Corona-Krise nicht sehr stark im kollektiven Bewusstsein verankert. Dies gilt im besonderen Maße für die Jugendlichen, von denen manche die Bezeichnung Spanische Grippe zum ersten Mal hörten und für die es eine erstaunliche Tatsache war, dass diese Krankheit mehr Todesopfer forderte als der Erste Weltkrieg, an dessen Ende sie entstand. Ebenso erstaunlich war es für die Schüler zu erfahren, wie viele berühmte Persönlichkeiten mit Infektionskrankheiten zu kämpfen hatten: Mozart, Beethoven, Goethe und Schiller hatten die Pocken. Frida Kahlo, Margarete Steiff und Franklin D. Roosevelt waren von Polio gezeichnet. Tschechow und Kafka starben an Tuberkulose. Die Schüler erlebten, dass Infektionskrankheiten die Menschheit schon lange begleitet haben und in wechselnder Ausprägung sogar allgegenwärtig waren beziehungsweise in Teilen der Welt noch immer sind.

Zum Autor: Markus Finke ist Oberstufenlehrer für Geschichte und Englisch an der Freien Waldorfschule Karlsruhe