Crowdhörnchen und Stillhalteprämie

Markus von Schwanenflügel

Sie tun das, damit Monat für Monat möglichst viele Grundeinkommen verlost werden können. Crowdhörnchen vermehren sich ständig. Inzwischen sind es über 180.000, mit dem Ergebnis, dass der Verein in den vergangenen fünf Jahren mehr als 560 Menschen jeweils ein Jahr lang monatlich 1000 Euro bedingungslos überweisen konnte.

Die glücklichen Gewinner werden gefragt, wozu sie das Geld verwenden, um festzustellen, »was Grundeinkommen mit Menschen macht«, so Michael Bohmeyer, der Initiator des Projekts. Das müsste auch den Bund der Freien Waldorfschulen interessieren, hat doch dessen Vorstand bereits vor mehr als zwei Jahren in dem Aufruf »Soziale Zukunft jetzt« die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) gefordert. Insofern ist es höchste Zeit, sich dem Thema zu widmen, zumal in Deutschland bereits jeder zweite das Projekt befürworten soll und es dank Corona vielleicht zu einem weiteren großflächigen Experiment dazu kommen wird.

Die erste Reaktion auf den Vorschlag, der Staat solle jedem Bürger 1000 Euro pro Monat ohne jegliche Auflagen zur Verfügung stellen, ist ja oft: »Wer wird denn dann noch arbeiten?« Diese Frage scheint mit Hilfe der Crowdhörnchen beantwortet zu sein, denn keiner der Gewinner hat sich laut Herrn Bohmeyer auf die faule Haut gelegt. »Sie arbeiten motivierter und sind dabei weniger gestresst, leben gesünder, bilden sich fort und entwickeln einen neuen Tatendrang.«

Die Befürworter eines BGE haben wohl recht: Der Mensch kann gar nicht anders, er muss sich betätigen. Er ist dazu prädestiniert, sich nützlich zu machen. Aber ähnlich wie bei dem unbedingten Willen zum Lernen, mit dem jedes Kind auf die Welt kommt, müssen ja bestimmte Bedingungen erfüllt sein, damit das, was in uns veranlagt ist, sich auch entwickeln kann und nicht sogar verschüttet wird. Zu fragen ist also nicht nur, ob die Auswahl der Teilnehmer repräsentativ ist, sondern auch, ob sie nicht beeinflusst werden, das Geld in besonderer Weise zu verwenden; denn es macht einen Unterschied, ob ich 1000 Euro zur Verfügung habe, weil ich ein Recht darauf habe – so wird der Anspruch auf ein BGE ja begründet – oder weil ich sie von Crowdhörnchen geschenkt bekomme.

Schenken und Beschenktwerden ist eine besondere Form der Begegnung. Und wie wir wissen, ist die Begegnung mit anderen Menschen entscheidend dafür, ob wir gehen, sprechen und denken lernen und aktiv werden in der Welt. Begegnung ist der »Kraftstoff« für unsere Entwicklung und für die der Gesellschaft. Sie wirkt selbst indirekt, beim Lesen eines Buches, oder – wie bei den Crowdhörnchen und den glücklichen Gewinnern – sogar wenn das Konto eines Vereins dazwischen ist. Martin Buber formuliert es sehr prägnant: »Der Mensch wird am Du zum Ich«. Die Kenntnis dieses »dialogischen Prinzips« als grundlegende Gesetzmäßigkeit der menschlichen Entwicklung kann dazu anregen, weiter über mögliche Wirkungen eines BGE nachzudenken.

Dazu sei zunächst daran erinnert, dass zwar auch diejenigen, denen es finanziell gut geht, ein Grundeinkommen bekommen sollen – was regelmäßig zu heftigem Kopfschütteln führt – eine Hilfe soll es vor allem denjenigen sein, die in prekären Verhältnissen leben. Es sind zu viele, die »am Rande der Gesellschaft« stehen und nur geringe Chancen haben, daran etwas zu ändern. Oft fühlen sie sich in einer depressiven Stimmung der Hoffnungslosigkeit gefangen. Die Kräfte sind versiegt, sich von sich aus zu betätigen und aktiv zu werden. Aber nehmen  diese Kräfte nicht generell ab?

Zwei Entwicklungen, die sich wechselseitig bedingen und verstärken, lassen sich beobachten: Die Zeit, in der wir – von Kindesbeinen an – selbst aktiv sind und anderen Menschen leibhaftig und aufmerksam begegnen, wird immer kürzer und die Zeit, in der wir uns von Medien beschäftigen lassen, immer länger.

Wir können versuchen abzuspüren, was 1000 Euro, die monatlich einfach so auf dem Konto erscheinen, auf die Dauer bewirken würden: Empfänger in finanzieller Not, wären sicher erleichtert, ihre Existenzängste wären gemildert – aber ist es nicht doch auch sehr wahrscheinlich, dass sich noch mehr Menschen, wir selbst eingeschlossen, noch mehr Dinge von gestressten Paketboten an die Tür bringen lassen, statt selbst häufiger vor die Tür zu gehen und in der Welt aktiv zu werden? Und müssen wir nicht leider davon ausgehen, dass dieser Effekt rein statistisch gerade bei den Menschen öfter auftreten wird, die eventuell schon über lange Zeit einer intensiveren Hilfe in ihrem Alltag bedürfen?

An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf unsere staatliche Sozialhilfe und hier vor allem auf die seit Hartz IV in Verruf geratene Unterstützung der Menschen, die arbeitslos sind. Eines ist klar: Genauso wenig wie bei Kindern können Strafen bei Erwachsenen eine positive Entwicklung bewirken, ja sie verhindern diese sogar. Die Sanktionen sollten also nicht nur eingeschränkt, sie sollten abgeschafft werden. Sie sind ja ein Hinweis darauf, dass ein Ursprung der Arbeitslosenhilfe die Arbeitshäuser sind, die dem Motto folgten: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« und in Zeiten der Industrialisierung als »Disziplinaranstalten« (Michel Foucault) eingerichtet wurden. Die »treibende Kraft« für die Ausgestaltung unseres Sozialwesens ist jedoch nicht die Profitgier der ersten Kapitalisten gewesen, sondern das  wunderbare Phänomen, dass wir helfen, wenn wir Menschen begegnen, die in Not sind.

Und in dieser Fürsorge sehen immer noch die meisten Mitarbeiter der Jobcenter ihre Aufgabe: Sie wollen den Menschen helfen, wieder eine möglichst sinnvolle Arbeit zu finden. Aber würden denn angesichts der oben skizzierten Situation die Menschen, die die Begegnung mit einem Berater bräuchten, diese überhaupt noch suchen, wenn man ihnen bedingungslos 1000 Euro pro Monat überwiese? Zumal ja damit auch die Nachricht übermittelt würde: »Bleib’ ruhig zu Hause, wir erwarten nichts von Dir, denn wir brauchen Dich gar nicht mehr. Das Geld für das BGE können wir von den Steuern abzweigen und Mr. Robot arbeitet – bald sogar in der Altenpflege – ohnehin effektiver als Du.«

Wieder können wir – gerade als Eltern und Pädagogen – sehr genau nachempfinden, was es »mit Menschen macht«, wenn man ihnen signalisiert, dass man nichts mehr von ihnen erwartet: Wir werden ihnen immer seltener begegnen.

Diese für die menschliche Begegnungskultur vor allem langfristig wahrscheinlich gravierenden sozialen Nebenwirkungen des BGE sind eine Folge davon, dass es mit den grundlegenden Bedingungen der menschlichen Existenz im Widerspruch steht. Um uns das klar zu machen, ist es hilfreich, von einer überschaubaren Lebensgemeinschaft auszugehen: In ihr wird natürlich geschwisterlich gewirtschaftet. Besondere Rechte von einzelnen an Gemeingütern (Boden, Wasser, Produktionsmitteln, Patenten …) gibt es nicht. Es wäre absurd, wenn jemand sagen würde: »Mir gehört der Boden. Statt ihn mit Euch gemeinsam zu bearbeiten, müsst Ihr mir Pacht zahlen.« Jeder hat solidarisch seinen Teil zum gemeinsamen Einkommen beizutragen, wobei Unterschiede in den Fähigkeiten, in der Gesundheit, im Alter und auch in den Interessen berücksichtigt werden. Die Arbeit oder Arbeitszeit, aber auch die Zeitersparnis durch Arbeitsteilung oder den Einsatz einer neuen Maschine, werden fair untereinander aufgeteilt. Ein Mitglied der Gemeinschaft, das auf den Gedanken käme, ein Recht auf ein BGE zu haben, würde damit behaupten, dass es sich nicht an der gemeinsamen Arbeit zu beteiligen habe, sondern sich beteiligen könne. Es würde damit die solidarische Verantwortung für den Lebensunterhalt verneinen, was offensichtlich im Widerspruch zu den Gesetzmäßigkeiten des Zusammenlebens stünde.

Für das Leben in einer kleinen Gruppe ist das alles selbstverständlich. Sobald aber die Zahl der Mitglieder wächst und sich das labile Gleichgewicht von Fairness und Solidarität immer weniger durch die persönliche Begegnung aufrecht erhalten lässt, wird es schwierig: Bekanntlich eignen sich dann einzelne Menschen, Menschengruppen oder ganze Staaten – mal durch Kauf, mal durch Erpressung – Rechte an, die niemandem gehören dürften, und die Rationalisierungsgewinne werden nicht mehr an die weitergegeben, die arbeiten.

Die unzulässig in den Bereich der Wirtschaft hineinwirkenden Rechtsverhältnisse sind der wesentliche Grund für den Warencharakter der Arbeit und die Basis für die Ausbeutung der Menschen und der Natur. Sie führen schon innerhalb Deutschlands zu völlig unangemessenen Unterschieden von Eigentum und Einkommen, global jedoch zu unerträglichen Verhältnissen, vor allem aber dazu, dass so viele Menschen hungern müssen. (1) Die »paradiesischen Zustände«, in denen wir laut Götz Werner (2) leben und mit denen er das Recht auf ein BGE und seine Finanzierbarkeit begründet, sind in Wahrheit der hemmungslosen Ausbeutung der Natur geschuldet und den vielen »Sklaven«, die jenseits der unsere Wohlstandsinseln umgebenden Zäune für uns schuften. (3) Ein BGE würde diese Zusammenhänge noch stärker verschleiern und die Kräfte noch mehr lähmen, diese Verhältnisse zu ändern; nicht umsonst wird das BGE auch als »Stillhalteprämie« bezeichnet.

Diese Widersprüche werden nicht bemerkt, weil die Idee des BGE von faszinierender Einfachheit ist und gleichzeitig den Idealismus der Menschen anspricht: Mit einem Schlag wären die Menschen von den finanziellen Nöten des Alltags befreit und könnten selbst bestimmen, was sie tun. Und außerdem würde es »der Arbeit ihren Sinn und den Menschen ihre Würde zurückgeben« und auch noch fast alle Probleme des Arbeitsmarktes lösen. (4) Dabei wird übersehen, dass Menschen erst etwas getan haben müssen, damit Steuern »anfallen«, die für ein BGE ausgegeben werden könnten. Wie kann ich erwarten, dass jemand arbeitet, damit ich meine Bedürfnisse befriedigen kann, ohne mich verpflichtet zu fühlen, dafür zu sorgen, dass er auch seine befriedigen kann! Das Recht auf ein BGE ist nicht von der Frage zu trennen, wem gegenüber denn dieses Recht bestehen soll. Wer diese Frage beantworten will, wird bemerken, dass es ein solches Recht nicht geben kann. (5)

Aber was wäre die Alternative, wenn doch klar ist, dass unser System der Sozialhilfe an sein Ende kommt? Um hierzu wenigstens einen Ansatz zu skizzieren, möchte ich auf die Crowdhörnchen zurückkommen. Sie haben ja vielen Menschen bedingungslos »ohne Ansehen der Person« geholfen. Auf dem Hintergrund meiner Überlegungen zur Begegnung als »Kraftstoff« für unsere Entwicklung ist meine Vision eine Gesellschaft, in der es nicht nur selbstverständlich ist, Hilfe zu leisten, sondern auch, um Hilfe zu bitten. Wie wäre es also, wenn jeder Bürger eine monatliche Unterstützung bis zu einem Betrag von 1200 Euro beantragen kann und diese auch ohne jede Kontrolle erhielte mit der einzigen Auflage, alle drei Monate dem CCC (Community and Coaching Center) einen Besuch abzustatten. Bei einer Tasse Kaffee würde er einer  freundlichen  Mitarbeiterin sagen, wie hoch die Unterstützung in den nächsten drei Monaten sein soll und diese würde fragen, wie es ihm gehe und ihm ein Coaching anbieten.(6) So würde zu persönlicher Begegnung angeregt, statt sie wie beim BGE zwar unbeabsichtigt, aber doch »systematisch« einzuschränken, die Selbstwirksamkeit der Menschen würde gefördert und schnell spräche sich herum, dass das alte Job-Center nicht wiederzuerkennen ist. (7)

Wie wir in den letzten Wochen schmerzhaft erfahren haben, können wir die beglückende Erfahrung einer »echten« Begegnung mit einem Menschen weder bei Videokonferenzen noch beim Skypen und erst recht nicht beim Chatten machen. Es braucht das leibhaftige Gegenüber, wenn wir Ideen und Kräfte entwickeln wollen, um die gesellschaftlichen Verhältnisse menschlicher zu gestalten.

Zum Autor: Dr. Markus von Schwanenflügel war viele Jahre Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik, zunächst an der Rudolf-Steiner-Schule Bochum, dann an der Windrather Talschule und hat den Jugendhof Naatsaku in Estland aufgebaut.

Anmerkungen:

(1) Zu nennen wären hier die neokolonialen Auswirkungen der Investitionsschutzabkommen, zu denen es im Internet eine Fülle von Informationen gibt. Vgl. Veröffentlichungen von F. Diaby-Pentzlin.

(2) G. Werner, in: Einkommen für alle. Köln 2007

(3) E. Hartmann: Wie viele Sklaven halten Sie? Über Globalisierung und Moral, Frankfurt/Main 2016

(4) G. Werner, A. Goehler: 1000 Euro für jeden, Berlin 2010

(5) Wesentliche Anregungen verdanke ich der Studie Das BGE – Pathologie und Wirkung einer sozialen Bewegung von J. Mosmann. Er unterzieht das sozialpolitische Konzept des BGE einer kritischen Analyse und tut dies auf dem Hintergrund der Dreigliederung des sozialen Organismus (R. Steiner). Ich möchte vor allem den Kollegen, die – in welchem Fach auch immer – die Gelegenheit ergreifen, über das BGE oder die Dreigliederung zu sprechen, dieses Buch empfehlen. Mosmann versucht, die heutigen sozialen, lokalen und globalen Probleme im Lichte der Ideen Steiners zu ordnen. Manches ist mit etwas spitzer Feder formuliert, was aber dem aus jeder Zeile sprechenden Engagement des Autors für das Thema geschuldet ist. Dasselbe gilt übrigens für die Schrift Wirtschaftskunde von R. Ulrich, die bezüglich dieses Themas einen Kontrapunkt setzt.

(6) Die Wirtschaftsnobelpreisträger 2019 beschreiben, wie effektiv solche Verfahren des Self-Targeting in der Sozialhilfe sind: A.V. Banerjee, E.Duflo in: Gute Ökonomie für harte Zeiten. Sechs Über­lebensfragen und wie wir sie besser lösen können. München 2020

(7) Natürlich sind dabei noch einige Fragen zu klären: Welche Transferleistungen können wegfallen? Wie kann dafür gesorgt werden, dass diejenigen, die wegen körperlicher oder psychischer Schwierigkeiten nicht zum CCC kommen, ihre Unterstützung erhalten? usw.