Erwachsene, die von Kindern Dankbarkeit erwarten und Fehlverhalten als Undankbarkeit deuten, stellen die Wirklichkeit auf den Kopf, meinte Janusz Korczak. Denn seiner Ansicht nach schulden wir den Kindern Dankbarkeit. Mit anderen Worten: Sie geben uns mehr als wir ihnen. Wer das nicht versteht, so Korczak, »kann kein Erzieher sein.«
Wir schulden den Kindern Dankbarkeit, weil sie uns mit dem Gold ihres Vertrauens überschütten. Jede pädagogische Beziehung, die den Namen verdient, beginnt damit, dass ein Kind sein bedingungsloses Vertrauen in sie hinein schenkt. Der Erwachsene erfährt dadurch eine große Auszeichnung. Dieses Geschenk müsste ihn nachgerade beschämen.
Gehen wir treuhänderisch mit diesem »Kapital« um! Veruntreuung beginnt lange vor offenen Grobheiten. Jede herablassende Bemerkung, jede lieblose Beurteilung hinter verschlossenen Türen ist ein Vertrauensbruch. Wollte man auf diese Dinge mehr achten, wäre so vieles zu vermeiden, was zu schmerzlichen Trennungen führt!
Rudolf Steiner geht noch weiter als Korczak: Eine bis zur religiösen Stimmung gesteigerte (!) Dankbarkeit dem Kinde gegenüber ist angebracht. Ach, Herr Steiner, geht’s nicht ’ne Nummer kleiner? Wir sehen uns doch so gern in der Rolle des Wohltäters! Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Es ist eine krumme, verschrobene Haltung, macht unsensibel und lässt uns dieses Vertrauen missbrauchen.
Was Dankbarkeit am meisten blockiert, ist Routine. Das Sedativum der Routine lässt uns Dinge als selbstverständlich hinnehmen, die es mitnichten sind. Als Kindertherapeut befasse ich mich überwiegend mit entmutigten, verstörten Kindern. Klaglos, ja freudig schenken (!) sie mir kostbare Stunden ihrer knapp bemessenen Freizeit. So muss ich es sehen! Von diesem Perspektivenwechsel hängt viel ab. Vollziehe ich ihn, hat der Routineteufel keine Chance – auch der zweite große Dankbarkeitskiller, die Selbstgefälligkeit, nicht.
Jeden Morgen strömen 30 Schüler ins Klassenzimmer. Sie kommen tatsächlich immer wieder! Der Lehrer kann sich sagen: »Na klar, was bleibt ihnen auch anderes übrig« (der Routinestandpunkt). Oder er sagt sich: »Das ist ein gewaltiger Vertrauensbeweis.« Dann wird er den Unterricht aus einer Stimmung der Dankbarkeit heraus gestalten. Und das ist allemal wichtiger als Perfektion.
Ein Achtklässler ist mehrmals unerlaubt dem Unterricht fern geblieben. Nun droht ihm der Schulverweis. Dabei hat der Junge bis dahin fast nie gefehlt. Er kam sogar verschnupft, übernächtigt oder mit Kopfweh in die Schule. Welche Auszeichnung für seine Lehrer! Man stelle sich vor, sie würden ihm nun mitteilen: »Seit du so oft fehlst, wird uns erst richtig klar, was wir an dir haben. Das Kollegium will dich nicht verlieren.« Aber so wird auf »Schuleschwänzen« selten reagiert. Vielleicht weil man die Abwesenheit »schwänzender« Schüler eben nicht als schmerzlichen Verlust erlebt, sondern lediglich als Regelverletzung? Wenn sieben Jahre Verlässlichkeit leichter wiegen als eine Phase häufigen Fernbleibens im achten Schuljahr, ist das ein Vertrauensbruch. Dabei könnte das »Schwänzen« als eine Art Anfrage gedeutet werden: Wie haltet ihr’s mit Dankbarkeit und Treue?